Dort in der Kajüte saß im Winkel, abgewendet von aller Welt, ein Bekannter aus Berlin, der mich nur etwa des Jahres einmal erkannte, ein Muster-Hypochonder ...

Dort in der Kajüte saß im Winkel, abgewendet von aller Welt, ein Bekannter aus Berlin, der mich nur etwa des Jahres einmal erkannte, ein Muster-Hypochonder, der sich darin von den gewöhnlichen unterscheidet, daß er sich seit mehreren Jahren für hergestellt ansieht und ausgiebt. Ich befinde mich außerordentlich wohl, pflegt er zu sagen, wenn er etwas sagt, seit ich nux vomica brauche, außerordentlich wohl.

Die erste Pflicht, die man jedem Hypochonder zu erweisen hat, besteht darin, ihn nicht eher wirklich zu kennen und anzureden, als bis man deutliche Anzeichen hat, er wolle es selber. Daß er antworten, auf etwas eingehn, sich betrachtet sehn muß, das ist ihm bereits eine gewaltige Anstrengung, deren er Kräfte und Nerven nicht immer fähig fühlt. Stumm neben Jemand sitzen, der ihm nicht stockfremd ist, macht ihm schon Arbeit und Mühe, denn der neben ihm Sitzende ist ja doch der stumme Gläubiger eines Gespräches. Jede Nähe nimmt in Beschlag; das empfindet der Hypochonder bis in die feinsten Nüancen – wer nie hypochondrisch gewesen ist, kennt das feinste Gewebe von Combinationen gar nicht, dessen der Mensch fähig ist.


Mein Schöneberger – in Schöneberg bei Berlin hatte ich mit ihm Kegel geschoben, als die nux vomica in glänzendster Blüthenwirkung bei ihm stand – schien keinen ganz schlechten Tag zu haben, obwohl er im Winkel saß; es war zwar nicht der kleinste Buchstabe in seinem Gesicht, als ob er mich jemals gesehen; aber ich sah schärfer, seine Augenlieder verriethen mir, daß es heute seine Hypochondrie erregen würde, wenn ich ihn ignorirte. Diese Gegensätze liegen einmal in dem Zustande: jetzt um keinen Preis gekannt sein, im nächsten um jeden Preis, weil man sonst Verachtung, Feindschaft, im Stillen schleichende Intrigue und alles Schlimme dahinter tragen kann. Kurz, sein linkes Augenlied sagte mir: heut will ich gegrüßt sein, und dann werd' ich mich besinnen, wo wir uns gesehen haben, und dann werd' ich nach einiger Zeit Schöneberg errathen mit dem Kegelschieben, und dann werd' ich sehr lächeln.

So geschah's. Er wollte nach Copenhagen reisen – Brechmittel haben etwas Vehementes, sagte er, obwohl sie eine vortreffliche Erschütterung des Organismus erzeugen, eine gelinde Seekrankheit muß ausgezeichnet wirken, ich hoffe darauf – den Ocean hab' ich erschöpft, die langen ungeschickten Wellen vermögen nichts mehr über meinen Magen, aber ich hoffe noch Alles von den kurzen, unregelmäßigen Stoß-Wellen der Ostsee –

Sie fahren also blos nach Copenhagen, um –

Bitte ergebenst, der Herr hinter Ihnen wünscht Sie zu sprechen – pah!

Ein richtiger Hypochonder läßt große Zwecke niemals bei ihren blanken Namen nennen.

Der Herr hinter mir wollte L'hombre spielen; da es aber auf dem Verdecke etwas Regen warf, so ließ sich nichts dagegen sagen, der Herr schlug aber dermaaßen hohe Sätze der Points vor, daß ich so lange äußerst erstaunte, bis ich mit einigem Detail dieses Herrn bekannt wurde. Er war nämlich bei der Post angestellt, und hatte nur drei Tage Urlaub, drei Tage Urlaub sind aber in einem Postofficiantenleben schon eine so außerordentliche Seltenheit, daß während derselben alles mögliche Außerordentliche versucht wird – ist's schon gefährlich, mit einem Commis zusammenzutreffen, der nach vierzehn Tagen oder gar drei Wochen seinen Sonntag-Nachmittag hat, so kann die ganze Existenz aufs Spiel kommen bei einem Postofficianten, der nach so und so viel Monaten einige Stunden Urlaub hat. Alles an Wagniß und Genuß soll da zusammengedrängt werden, was sich klein, einzeln, unscheinbar in unserem stets offen stehenden Leben herausmacht und verliert.

Der Hypochonder lächelte zum L'hombre : Kartenspiel kümmert sich um Nachbarn und Zuschauer nicht, der Nebensitzende ist leicht beschäftigt, und doch nicht in Anspruch genommen, bleibt stets ein Freiwilliger. Dieser Zustand ist das Ideal eines Hypochonders. Er flüsterte zuweilen seinen Lieblingsspruch: »das Leben ist wenig, das Leben ist blutwenig«, und daran war zu erkennen, wie vortrefflich er sich befand, denn der eigentlich schlimme Hypochonderzustand hat keine Wort.

Wir waren mitten im riskanten L'hombre , als der Postofficiant erfuhr, das Dampfschiff gehe am andern Morgen schon wieder von Swinemünde ab, dann pausirte es zwei Tage, ehe es wieder ankäme und abführe. Dies war gegen den Plan seiner dreitätigen Ferienzeit, und er war nun genöthigt, des andern Morgens wieder zurückzureisen, wenn er zur rechten Zeit hinter'm Brieffenster sitzen wollte. Dies machte ihn noch verwegener, und er paßte gar nicht mehr, sondern entrirte jedes Spiel, um die Zeit auszubeuten – die Situation mochte den Hypochonder amüsiren, er flüsterte immer lebhafter: das Leben ist wenig!

Da wechselt die Scene: der Postbeflissene vollendete die stehende Formel: »ich entrire« nicht mehr, die Karten entsanken seiner Hand, er neigte sein Haupt – das Haff war unruhig geworden, und stieß unser Schiff heftig in die Rippen, Neptuns Opfer begannen ringsum – mit dräuender Miene blieb nur der Hypochonder aufrecht sitzen – jeder Lump wird seekrank, sprach er vor sich hin, nur ich nicht.

Man erzählt, daß alte, ausgepichte Matrosen, lebenslange Indienfahrer, denen der Ocean die Magenheiterkeit keinen Augenblick trübt, daß diese Auktoritäten des Schönebergers auf dem Haff und der Ostsee krank werden wie Landratten; ich machte die entsprechende andre Erfahrung: auf dem adriatischen Meere straften mich die Meeresgötter in den ersten fünf Minuten, hier fühlte ich nur den Kopf ein wenig belegt. Da ich ausgestrecktes Liegen, besonders wenn der Kopf sich ebenfalls horizontal fügt, als probat erfunden hatte, so nahm ich eine Kajütenbank in Beschlag, und das stille Schaukeln, das gleichmäßige Aechzen und Stöhnen der Opfernden, der unverrückbar in der Mitte des Zimmerchens sitzende, vergebens den Meereszorn herausfordernde Schöneberger wirkten so einförmig, schläfernd auf mich, daß ich halb bewußtlos auf den Wogen schwamm.

Behält es nicht immer etwas tief Erschreckendes, wie unser Leben fortwährend an unermess'nen Abgründen schlummert! Wir haben uns so hinein gelebt in die gröbsten äußerlichen Gesetze der Dinge und Kräfte, daß wir die Furcht vergessen, weil wir nicht mehr nachdenken. Es ist auch das Beste, da gar nichts zu fürchten, wo man Alles fürchten müßte – man denkt nicht daran, daß die See einmal senkrecht, aufwärts strömen könnte statt horizontal, dann verschlänge sie solch Dampfboot wie einen Tropfen, man schläft ein im unbewußten Vertrauen auf herkömmliche Gesetze.

Ich hatte lange geschlafen, aber der Hypochonder saß noch unverrückt dräuend da, ein kugelfester Held, um den rings Alles gefallen war – nicht seekrank? fragte ich – ein verachtendes Schweigen antwortete – die Ostsee macht mehr Wirthschaft, tröstete ich, und zum Zeichen des Empfangens solcher Tröstung puhstete der Schöneberger.

Ich stieg aufs Verdeck – kalter Wind und Regen schmissen darüber hin; an der Backbordseite war ein Raum den Seebrüchigen angewiesen; Matrosen führten allerlei Kandidaten dahin, namentlich eine alte Stettinerin hatte fest wie an der Farobank Posto gefaßt, mit beiden magern Händen den Rand des Schiffes haltend, und in gemessenen Pausen sich vom Sitze nach dem Wasser zu erhebend. Sie hat ihren Posten bis wir landeten unverrückt bewahrt wie der Steuermann. Eine Dame jüngerer Zeit verdeckte das Gesicht mit schönen weißen Händen, die Augen schienen geschlossen zu sein, sie regte kein Glied – der Postbeflissene, welcher sich herauf geschleppt hatte, kauerte nicht weit von ihr, und genoß in Angstschweiß gebadet seine Ferien. Kleine Hügel rechts vom Schiffe flogen dicht am Ufer vorüber, die Lebbiner Berge, noch weiter rechts zeigten sich die Wolliner, Swinemünde war nahe. Mittelmäßigen Geographen wird es bekannt sein, daß in der Schule gelehrt wird, die Oder bilde bei ihrem Ausflusse zwei Inseln, Usedom, oder vollständiger Uisedom und Wollin; heißt nun auch das Wasser nicht mehr Oder, und datirt es auch nur zum geringsten Theile von ihr, die Sache hat doch ihre ziemliche Richtigkeit, und als wir um eine kleine, mit Fichten sparsam bewachsene Landzunge gebogen waren, lag die östliche Ecke von Usedom vor uns, und darauf mit leuchtenden weißen und gelben Häusern Swinemünde: Es erinnert an die Landhäuserreihe, welche zwischen Padua und Venedig am Ufer der Brenta liegen. Von den vielen Kauffahrern im Hafen schallte jener monotone Matrosengesang, der uns noch zu sprechen geben wird; was noch von Badegästen in Swinemünde war, kam an den Quai, Bolwerk hier genannt, um das Dampfschiff landen zu sehn; dunkelnd fiel der Abend nieder; der Postbeflissene sah's mit Schmerz; nur dieser Abend, den ihm die Nachwehen der Seekrankheiten füllten, war der stille Genuß seiner Reise, den andern Tag mußte er fort; der Schöneberger erschien auf dem Verdecke und sagte »Pah!«

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Eine Fahrt nach Pommern und der Insel Rügen