Schicksale der verwundeten Soldaten

Ein anderer, fast tauber Franzose war ebenfalls 200 Meilen weit hergekommen, um seine Landsleute zu pflegen; als er jedoch in Mailand die österreichischen Verwundeten so sehr erlassen sah, widmete er sich ausschließlich der Sorge für sie und suchte mit allen Kräften ihnen so riet Gutes als möglich zu tun, für all das Böse, welches ihm 45 Jahre vorher ein österreichischer Offizier zugefügt hatte. Im Jahre 1814 nämlich, als die Armee-Corps der heiligen Allianz Frankreich überschwemmten, wurde dieser Offizier bei den Eltern des Franzosen einquartiert, der, noch ganz jung zu jener Zeit, an einer Krankheit darniederlag, welche dem fremden Krieger ein Gegenstand des Ekels war; der Letztere ließ deshalb, ohne daß man ihn daran hätte hindern können, das Kind zur Türe und zum Hause hinauswerfen, und dieses wurde in Folge der brutalen Handlungsweise von einer Taubheit befallen, an welcher es sein ganzes Leben lang litt.

In einem der Spitäler von Mailand wurde ein Sergeant der Zuaven der Garde mit stolzem und energischem Antlitze, dem man ein Bein abgenommen hatte, ohne daß er während der Operation einen einzigen Klageruf laut werden ließ, von einer tiefen Trauer befallen, obgleich sein Zustand sich besserte und die Heilung merkliche Fortschritte machte. Diese täglich zunehmende Trauer war deshalb unerklärlich. Eine barmherzige Schwester, welche selbst Tränen in seinen Augen bemerkt hatte, setzte ihm mit Fragen so lange zu, bis er ihr endlich eingestand, daß er die einzige Stütze seiner betagten und kränklichen Mutter sei, welcher er, so lange er noch wohlauf gewesen, alle Monate 5 Franken, die er sich von seinem Solde ersparte, zugesendet hatte; er befinde sich nun in der Unmöglichkeit, sie zu unterstützen, und sie müsse wohl recht in Geldnöten sein, da er ihr diese kleine Rente nicht habe schicken können. Die von Mitgefühl gerührte barmherzige Schwester gab ihm hierauf einen Fünffrankentaler, welcher sogleich nach Frankreich geschickt wurde; als die Gräfin T., welche sich für diesen wackern und würdigen Soldaten interessierte, und der man die Ursache seiner Trauer mitgeteilt hatte, ihm eine kleine Summe für sich und seine Mutter geben wollte, weigerte er sich, sie anzunehmen und sagte ihr nach herzlichen Dankesworten: „Behalten Sie dieses Geld für Andere, die es notwendiger brauchen, als ich, denn was meine Mutter betrifft, so hoffe ich, ihr den nächsten Monat ihre Pension schicken zu können, da ich nun wohl bald arbeiten kann.“


Eine der angeseheneren Damen Mailands, die einen geschichtlich bekannten Namen trägt, hatte einen ihrer Paläste mit 150 Betten für die Verwundeten zur Verfügung gestellt. Unter den in diesem prachtvollen Gebäude untergebrachten Soldaten befand sich auch ein Grenadier des 70. Regimentes, der nach überstandener Amputation in Todesgefahr war. Die Dame, welche den Verwundeten zu trösten suchte, lenkte auch das Gespräch auf seine Familie, und der Soldat erzählte ihr endlich, daß er der einzige Sohn von Bauern in dem Gers-Departement sei, daß er keinen andern Kummer habe, als sie im Elende lassen zu müssen, indem er allein sie habe unterstützen können; „es wäre ein großer Trost für ihn,“ setzte er hinzu, „wenn er noch vor seinem Tode seine Mutter umarmen könnte.“ Die Dame entschloß sich plötzlich, ohne ihm etwas davon zu sagen, von Mailand abzureisen, fuhr mit der Eisenbahn nach dem Gers-Departement zu der Familie, deren Adresse sie sich von dem Soldaten hatte geben lassen, nahm dessen Mutter mit sich, nachdem sie dem kränklichen Vater 2000 Fr. zurückgelassen hatte, und brachte nun die arme Bäuerin mit nach Mailand, wo 6 Tage nach jener Unterredung der Grenadier weinend und seine Wohltäterin segnend seine Mutter umarmte.

Aber weshalb haben wir hier so viele schmerzliche und ergreifende Auftritte geschildert und vielleicht so manche peinliche Gefühle geweckt? Weshalb mit Vorliebe gerade solche erschütternde Gemälde mit einer fast gesuchten Ausführlichkeit vor den Augen der Leser ausgerollt?

Auf diese so natürliche Frage sei es uns erlaubt, mit einer andern Frage zu antworten:

Wäre es nicht möglich, freiwillige Hilfsgesellschaften zu gründen, deren Zweck ist, die Verwundeten in Kriegszeiten zu pflegen oder pflegen zu lassen?!

Da man wohl verzichten muß auf die Wünsche und Hoffnungen der Mitglieder der Gesellschaft der Friedensfreunde oder auf die Traumgebilde des Abbé von Saint Pierre und die Inspirationen des Grafen von Sellon; da die Menschen fortfahren, sich gegenseitig zu töten, ohne sich zu hassen, und da der größte Ruhm im Kriege darin besteht, so viele Menschen als möglich zu töten; da man offen erklärt, wie Graf Joseph de Maistre versichert, daß „der Krieg etwas Göttliches sei;“ da man täglich mit einer Beharrlichkeit, die eines besseren Zieles wert wäre, immer schrecklichere Zerstörungsmittel als die Bisherigen erfindet, und die Erfinder dieser Mordwerkzeuge von den meisten europäischen Großstaaten, in denen man sich immer mehr rüstet, noch begünstigt werden; weshalb sollte man nicht die Zeit der momentanen Ruhe und Friedensstille benutzen, um eine Frage von so hoher Wichtigkeit, sowohl vom Standpunkte der Menschlichkeit, als von dem des Christentums zu entscheiden?

Sobald einmal dieser Gegenstand einem Jeden zum Nachdenken unterbreitet wird, so wird dies nicht ermangeln, ohne Zweifel auch Betrachtungen und Schriften von gewandteren und kompetenteren Personen hervorzurufen; allein sollte nicht alsogleich ein solcher, den verschiedenen Zweigen der großen europäischen Familie zur Beurteilung übergebener Gedanke schon jetzt die Sympathien und die Aufmerksamkeit aller Jener beschäftigen, welche ein Gefühl für die Leiden ihrer Mitmenschen im Herzen tragen?


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Eine Erinnerung an Solferino (1859)