Die berühmte Samariterin Florence Nightingale

Allein wir wollen hier namentlich nur zwei solcher in neuerer Zeit vorgekommener Fälle erwähnen, welche in dem orientalischen Kriege vorkamen und vollständig zu unserem Gegenstande passen. Während die barmherzigen Schwestern die Verwundeten und Kranken der französischen Krim-Armee pflegten, kamen vom Norden und Osten zwei edle Legionen hingebender Krankenwärterinnen, von zwei heiligen Frauen geführt, bei der russischen und bei der englischen Armee an. Kaum war nämlich der Krieg ausgebrochen, als die Großfürstin Helena-Paulowna von Rußland, geb. Prinzessin Charlotte von Württemberg und Witwe des Großfürsten Michael, mit nahe an 300 Damen St. Petersburg verließ, und diese Damen übernahmen nun den Dienst der Krankenwärterinnen in den Spitälern der Krim, wo sie Tausende russischer Soldaten retteten. *) Anderseits erhielt Miss Florence Nightingale, welche die Spitäler von England und die hauptsächlichsten Barmherzigkeits- und Wohltätigkeitsanstalten auf dem Festlande besucht und sich, indem sie auf die angenehme Lebensweise ihres Standes verzichtete, wohltätigen Zwecken gewidmet hatte, einen dringenden Aufruf von Lord Sidney Herbert, zu jener Zeit Kriegssekretär des britanischen Reiches, in welchem sie ersucht wurde, die Pflege der englischen Soldaten im Orient zu übernehmen. Miss Nightingale, deren Namen seitdem im Volksmunde lebt, zögerte keinen Augenblick, diesen Vorschlag, für den sie auch das Herz ihrer Monarchin eingenommen wußte, anzunehmen, und sie reiste im November 1854 über Konstantinopel und Scutari mit 37 englischen Damen, welche gleich nach ihrer Ankunft in der Krim die so zahlreichen Verwundeten von Inkermann zu pflegen Gelegenheit hatten.

Im Jahre 1855 folgte ihr Miss Stanley mit 50 neuen Gefährtinnen, wodurch es Miss Nightingale möglich wurde, nach Balaklava zu gehen und dort die Spitäler zu besuchen. Man weiß ja, was ihre glühende Liebe für die leibende Menschheit in der Krim für Gutes vollführte.**)


*) Während dem Orientkriege vom Winter 1854—1855 besuchte der Kaiser von Rußland, Alexander II. die Spitäler der Krim. Dieser mächtige Herrscher, dessen ausgezeichnetes Herz und dessen großmütige, menschenfreundliche Seele bekannt genug sind, war von dem Schauspiele, das sich seinen Blicken darbot, so tief ergriffen, daß er sich von diesem Augenblicke an entschloß, Frieden zu schließen, da es ihm widerstrebte, die Metzeleien fortdauern zu lassen, welche eine so große Zahl seiner Untertanen in diesen bejammernswerten Zustand versetzten.

**) Das Bild der Miss Florence Nightingale, wie sie während der Nacht mit einer kleinen Laterne in der Hand die weiten Schlafsäle der Militärspitäler durchwandert, und den Zustand jedes Kranken sich aufschreibt, um ihm die notwendigste Hilfe verschaffen zu können, wird sich wohl niemals aus den Herzen derer verwischen lassen, welche Gegenstand oder Zeuge dieser bewunderungswürdigen Barmherzigkeit waren, und die Geschichte wird den Namen dieser Frau für immer in ihren Annalen bewahren.


Allein wie viele andere Beweise von Hingebung, sowohl in der neueren als in der älteren Zeit sind von denen wohl die Meisten unbekannt geblieben sind, wie Viele waren mehr oder weniger erfolglos, weil sie allein standen und nicht durch zusammengreifende und wohlorganisierte Anordnungen unterstützt wurden!

Wenn solche freiwillige Krankenwärter den 24., 25. und 26. Juni in Castiglione, oder zur selben Zeit in Brescia wie auch in Mantua und Verona gewesen wären, welch‘ unberechenbares Gute hätten sie hier wohl leisten können? Wären sie nicht während dieser schrecklichen Nacht vom Freitag auf den Samstag, da sich Klagen und durchdringende Hilferufe aus der Brust von Tausenden von Verwundeten rangen, welche bei den furchtbarsten Schmerzen von der unaussprechlichen Qual des Durstes geplagt wurden, von dem größten Nutzen gewesen!

Wenn der Fürst von Isenburg in seinem besinnungslosen Zustande etwas früher durch mitleidige Hände von diesem feuchten, blutgetränkten Boden aufgehoben worden wäre, so würde er nicht heute noch an den Wunden leiden, welche durch die Vernachlässigung von mehreren Stunden sich ungemein verschlimmert hatten; und wenn man nicht zufällig, durch sein Pferd auf ihn aufmerksam gemacht, ihn unter so vielen Leichnamen hervorgezogen hätte, würde er nicht wegen Mangel an Hilfe zu Grunde gegangen sein, wie so manche anderen Verwundeten, welche nicht weniger Geschöpfe Gottes sind, und deren Tod nicht minder schmerzlich ihre Familien berührt haben wird? Glaubt man nicht, daß diese schönen jungen Mädchen und diese guten Frauen von Castiglione noch viele der verstümmelten oder entstellten Krieger, welche noch zu heilen waren, hätten pflegen können? Es genügte aber hier nicht an schwachen und oft unwissenden Frauen, nein es hätten mit und neben ihnen erfahrene, taugliche und entschlossene Männer tätig sein sollen, welche, im Voraus organisiert, in das Ganze Ordnung gebracht haben würden, um alle jene Unglücksfälle und Fieber zu vermeiden, welche die Wunden nur verschlimmern und sie schnell genug tödlich werden lassen.

Wenn man eine hinlängliche Anzahl Gehilfen gehabt hätte, um bei dem Aufsuchen der Verwundeten in der Ebene von Médole und in den Schluchten von San Martino, sowie auf den Abhängen des Fontanaberges oder der Mamelons von Solferino tätig zu sein, so wurde man nicht den 24. Juni während dieser langen Stunden jenen Versagliere, jenen Ulanen oder jenen Zuaven in so drückender Todesangst, in der so bitteren Furcht des Verlassenseins gelassen haben; diese Unglücklichen versuchten trotz ihrer furchtbaren Schmerzen sich zu erheben, und gaben vergebens von der Ferne und wiederholt Zeichen, damit man eine Tragbahre nach ihrer Seite hinbringe. Endlich würde man nicht in den schrecklichen Fall gekommen sein, wie dies nur zu wahrscheinlich den andern Tag geschehen, noch Lebende mit den Toten zu begraben!


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Eine Erinnerung an Solferino (1859)
Florence Nightingale (*1820, † 13. August 1910 in London)

Florence Nightingale (*1820, † 13. August 1910 in London)

Florenz Nightingale bei einem sterbenden Soldaten

Florenz Nightingale bei einem sterbenden Soldaten

Florenz Nightingale (1820-1910)

Florenz Nightingale (1820-1910)

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