Die Transporte von Verwundeten nach Mailand

Die Transporte von Verwundeten, welche von Brescia nach Mailand stets in der Nacht abgingen (wegen der brennenden Sonnenhitze des Tages), boten durch die mit verstümmelten Soldaten gefüllten Waggons einen ungemein traurigen und ergreifenden Anblick dar, und so besonders die Ankunft in den von einer traurigen, stillen Volksmasse angefüllten Bahnhöfen, welche der fahle Schein von Pechfackeln beleuchtete; in dieser dichtgedrängten, von Mitgefühl tief bewegten Menge hielt jeder einzelne wie im Einverständnisse den Atmen an, während das Klagen und das unterdrückte Stöhnen aus den Waggons bis zu ihnen drang.

Die Österreicher hatten bei ihrem Rückzuge bis zum Gardasee, während des Juni, die lombardisch-venetianische Eisenbahn auf vielen Punkten auf der Strecke von Mailand nach Brescia und Peschiera unterbrochen; allein diese Linie wurde schnell wieder hergestellt und dem Verkehre übergeben*), um den Transport des Materials, der Munition und der für die alliierte Armee bestimmten Lebensmittel zu erleichtern und die Entleerung der Spitäler von Brescia zu ermöglichen.


*) Dieses Resultat ist namentlich der Tätigkeit und der Energie des mailändischen Banquiers Carl Brot zu danken, welcher das einzige in der Stadt zurückgebliebene Mitglied des Verwaltungsrates der lombardisch-venetianischen Eisenbahnen war.

Auf jeder Station waren lange und schmale Baracken aufgeschlagen, um die Verwundeten, sobald sie die Waggons verließen, darin aufzunehmen, zu welchem Zwecke sich Betten oder einfach neben einander gelegte Matratzen darin befanden; unter diesen sogenannten Schuppen wurden auch noch Tische aufgestellt, welche mit Brot, Fleischbrühe, Wein und namentlich Wasser, sowie mit Charpie und Verbandbändern, an welchen es stets mangelte, beladen waren. Die von den jungen Leuten des jeweils berührten Ortes gehaltenen Fackeln verdrängten die Dunkelheit, und die Städter beeilten sich, ihren Tribut an Aufmerksamkeit und Dankbarkeit den Siegern von Solferino darzubringen; unter religiösem Schweigen verbanden sie die Verwundeten, welche mit väterlicher Sorgfalt aus den Waggons gehoben und dann auf die für sie bereit stehenden Lagerstätten gebracht wurden; die Damen des Ortes reichten erfrischende Getränke und Lebensmittel aller Art sowohl an sie, als auch an die in den Waggons Zurückgebliebenen, welche bis nach Mailand gebracht werden sollten. In dieser letztern Stadt, woselbst in jeder Nacht gegen tausend Verwundete ankamen*), wurden während mehreren Nächten die Märtyrer von Solferino mit der gleichen Bereitwilligkeit und Zuneigung aufgenommen, wie seiner Zeit die Sieger von Magenta und Marignano.

*) Gegen die Mitte des Junis 1859 und somit vor der Schlacht von Solferino beherbergten die Spitäler von Mailand in Folge der vorhergehenden Kämpfe gegen 9.000 Verwundete; das Spital Maggiore oder große Zivilspital (im 15. Jahrhundert von Bianca Visconti, der Gemahlin des Herzogs Sforza, gegründet) hatte allein deren gegen 3.000 aufgenommen.

Allein jetzt wurden nicht mehr Rosenblätter von den beflaggten Balkonen der prachtvollen Paläste der mailändischen Aristokratie aus den Händen der niedlichen und schönen, durch ihren leidenschaftlichen Enthusiasmus noch reifender gewordenen Patrizierinnen auf die glänzenden Epauletten und die von Gold und Edelsteinen funkelnden Kreuze her abgeworfen; man empfing diese verstümmelten Krieger mit heißen Tränen, mit dem Ausdrucke schmerzlicher Bestürzung und eines Mitgefühles, das sich bald in christliche Ergebung und geduldige Entsagung verwandelte.

Alle Familien, welche Wagen besaßen, holten am Bahnhofe Verwundete ab, und es waren von den Mailändern zu diesem Zwecke mehr als fünfhundert solche Equipagen gesendet worden; die reich geschmückten Kaleschen, sowie die bescheidensten Wagen fuhren jeden Abend nach der Porta Tosa an den Bahnhof der Eisenbahn von Venedig. Die edlen italienischen Damen rechneten es sich zur Ehre an, eigenhändig die ihnen zufallenden Verwundeten in ihren mit Matratzen, Leintüchern und Kopfkissen versehenen Wagen bequem unterzubringen und die lombardischen Edelleute fuhren sie alsdann mit Hilfe der ebenso aufmerksamen Diener in ihren prachtvollen Wagen. Die Menge begrüßte beim Vorüberfahren diese Begünstigten, man entblößte das Haupt, Fackelträger schritten zur Seite der Wagen her, und der Schein ihrer Fackeln beleuchtete das Antlitz der Verwundeten, welche zu lächeln suchten; die Menge folgte bis zu den gastlichen Palästen und Häusern, in denen der Leidenden die aufmerksamste Sorgfalt wartete.

Jede Familie wollte ihren französischen Verwundeten haben und suchte auf jede Weise den Leidenden die Abwesenheit vom Vaterlande, von den Verwandten und Freunden zu ersetzen; in den Privathäusern, sowie in den Spitälern waren die besten Ärzte um sie beschäftigt.*) Die angesehensten mailändischen Damen bewiesen ihnen eine unermüdliche Sorgfalt und schreckten vor keiner Dienstleistung zurück; sie wachten mit unerschütterlicher Standhaftigkeit sowohl an dem Bette des einfachen Soldaten, als des Offiziers; Frau Uboldi di Capei, Frau Boselli, Frau Sala, geb. Gräfin Taverna, und viele andere Damen verzichteten vollständig auf ihre elegante und bequeme Lebensweise, um während ganzer Monate an den Schmerzenslagern der Kranken, deren Schutzengel sie wurden, zuzubringen.

*) Die Bewohner von Mailand mußten zum größten Teile und bereits nach wenigen Tagen die bei sich aufgenommenen kranken Soldaten nach den Hospitälern bringen, weil man die ärztlichen Hilfeleistungen nicht nach so vielen Seiten hin zersplittern wollte, und da die so außerordentlich ermüdeten Ärzte nicht so viele Krankenbesuche machen konnten.

Die oberste Leitung über die Spitäler der Stadt war dem Dr. Cuvellier anvertraut, der sich auf würdige Weise seiner schweren Aufgabe entledigte, welche ihm der Chefchirurg der italienischen Armee übertragen hatte. Dieser letztere war nach der Schlacht von Solferino auf das Kräftigste unterstützt worden von Herrn Faraldo, dem Generalintendanten von Brescia, dessen Tätigkeit und edle Gefühle nicht genug gerühmt werden können.

Als die französische Armee gegen die Mitte Juni nach Brescia vorrückte, ließ sie hinter sich hinreichende Räumlichkeiten für die Unterkunft von mehr als Tausend Verwundeten.

Es muß hier ebenfalls noch die in humanitärer Beziehung so gute Organisation der franz. Armee erwähnt werden, welche man insbesondere S. E. dem Kriegsminister und Marschall Randon, sowie dem Generalstabschef der italienischen Armee, Marschall Baillant, und dem Generaladjutanten desselben, General de Martimprey, verdankte.


Alle diese Wohltaten wurden ohne Prahlerei vollbracht, und die Sorgfalt, die Tröstungen, kurz die Aufmerksamkeiten von jedem Augenblicke verdienen wohl neben der Erkenntlichkeit der Familien derer, welche Gegenstand derselben waren, die achtungsvollste Bewunderung jedes Menschenfreundes. Einige dieser Damen waren Mütter, deren Trauerkleider auf erst kürzlich erlittene Verluste deuteten; wir wollen hier nur die wirklich schönen Worte, welche eine dieser Damen zu dem Dr. Bertherand sagte, mitteilen: „Der Krieg hat mir,“ sagte die Marchese L*** zu ihm, „den ältesten meiner Söhne geraubt; er starb vor 8 Monaten in Folge einer Schusswunde, die er erhielt, als er neben Ihrer Armee bei Sebastopol im Kampfe stand. Als ich erfuhr, daß verwundete Franzosen nach Mailand kommen sollten, und daß ich sie pflegen könne, fühlte ich, daß mir Gott den ersten Trost gesendet.“

Gräfin Berri-Borromeo, die Präsidentin des Zentral-Hilfs-Komitees*) übernahm die Oberleitung der Depots von Leinwand und Charpie und fand außerdem noch Zeit genug, um trotz ihres vorgerückten Alters den Vermundeten während mehrerer Stunden vorzulesen. Alle Paläste hatten Kranke aufgenommen; der auf den Borromeischen Inseln enthielt deren allein 300. Die Superiorin der Ursulinerinnen, die Schwester Marina Videmari, stand einem Spitale vor, in welchem die größte Ordnung und Peinlichkeit herrschte, und das sie mit ihren Gefährtinnen bediente.

*) Die Gräfin Justina Berri, geb. Borromeo, starb 1860 in Mailand, von Allen, die das Glück hatten, sie zu kennen, auf das Tiefste betrauert. Die Magazine für Charpie und Verbandbänder, in der Contrada San Paolo, welche von ihr mit wirklicher Intelligenz verwaltet wurden, erhielten ihren regelmäßigen Vorrat durch fortwährende Sendungen aus den verschiedenen Städten und Landesteilen, namentlich aber von Turin, wo die Marchese Pallavicino-Trivulzto sich in ähnlicher Weise, wie die Gräfin Berri in Mailand, der Sorge für das Wohl der Verwundeten hingab.

Von Genf und andern Schweizer Städten, ebenso von Savoyen, wurden bedeutende Ladungen von Linnenzeug und Charpie durch die Vermittelung des Dr. Appia, der in Genf hiezu die Initiative ergriffen hatte, nach Turin gesendet. Bedeutende Summen Geldes waren außerdem dazu bestimmt, den Verwundeten ohne Rücksicht auf ihre Nationalität alle Arten kleiner Annehmlichkeiten zu verschaffen. Die Gräfin G. empfahl zu diesem Zwecke die Bildung eines Komitees, und dieser in Paris sehr günstig aufgenommene Vorschlag fand zuerst in Genf seine Ausführung. Von diesem neutralen Gebiete aus, in welchem die Sympathien sich natürlich zwischen den kriegführenden Parteien teilten, ließ man die Unterstützungen den offiziellen Komitees in Turin und Mailand zufließen, und diese verteilten sie dann unparteiisch unter die Franzosen, Deutschen und Italiener.

Die so gute, großherzige und hingebende Marchese Pallavicino-Trivulzio präsidierte in Turin das Haupt-Komitee (Comitato delle Signore per la raccolta di bende, filacce, a pro dei feriti) mit der Tätigkeit, welche eine so schwere Ausgabe verlangte. — außerdem hatten sich in Turin noch andere Komitees gebildet, und die Bevölkerung zeigte sich daselbst sehr freundlich gegen die Opfer des Krieges.


Nach und nach sah man nun kleine Abteilungen wiederhergestellter französischer Soldaten den Weg nach Turin nehmen; ihre Züge waren von der Sonne Italiens gebräunt, die Einen trugen den Arm in der Schlinge, Andere stützten sich auf Krücken, Alle ließen aber die Spuren schwerer Verwundungen erkennen. Ihre Uniformen waren zwar abgenutzt und zerrissen, aber prachtvolles Linnenzeug, mit dem sie die reichen Lombarden versahen, hatte ihre blutbespritzten Hemden ersetzt. „Ihr Blut ist für die Verteidigung unseres Vaterlandes geflossen,“ hatten die Italiener zu ihnen gesagt, „wir wollen dasselbe als Andenken bewahren.“ Diese noch vor Wochen so starken und kräftigen Leute, jetzt eines Armes oder Beines beraubt oder mit eingehülltem, noch blutendem Kopfe, ertrugen ihre Leiden mit Gelassenheit. Aber sie waren ja von nun an nicht mehr im Stande, die Laufbahn des Kriegers länger zu verfolgen oder ihren Familien beizustehen, und Mancher dachte schon mit schmerzlicher Bitterkeit daran, Gegenstand des Bedauerns oder des Mitleids zu werden und sich und Andern zur Last zu fallen.

Ich kann mich nicht enthalten, mein Zusammentreffen in Mailand, auf der Rückreise von Solferino, mit einem ehrwürdigen Greise zu erwähnen, dem Marquis Ch. de Bryas, ehemaligen Deputierten und Maire von Bordeaux, welcher, im Besitz eines großen Vermögens, nur deshalb nach Italien gekommen war, um den Verwundeten beizustehen. Ich war so glücklich, die Abreise dieses edeln Philanthropen nach Brescia zu erleichtern; denn während der ersten Hälfte des Juli war die Unordnung und der Zudrang an dem Bahnhofe der Porta Tosa, wohin ich ihn begleitete, so groß, daß man nur mit ungeheurer Schwierigkeit bis zu den Waggons gelangen konnte. Trotz seines Alters, seiner Stellung und dem öffentlichen Charakter, den er begleitete (denn er war, wenn ich mich nicht irre, von der französischen Verwaltung mit einer mildtätigen Mission betraut worden), gelang es ihm dennoch nicht, einen Platz in dem Zuge zu finden, mit dem er abreisen sollte, dieser kleine Vorfall möge zum Beweise dienen, welche Menschenmenge die Zugänge zu dem Bahnhofe und den Bahnhof selbst umdrängte.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Eine Erinnerung an Solferino (1859)