Ein neues Werk über den Krimkrieg.

Aus: Russische Revue. Monatsschrift für die Kunde Russlands. Band XIII
Autor: Röttger, Carl (?-?) Herausgeber, Erscheinungsjahr: 1878

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Themenbereiche
Enthaltene Themen: Russland, Russen, Krim, Krimkrieg, England, Frankreich, Preußen, Polen, Türkei
Etude diplomatique sur la guerre de Crimée. Par un ancien diplomate, St. Pétersbourg, 1878. 2 Bände. 8° VII., 544 und 424 S. Librairie de la Cour Impériale H. Schmitzdorff (Charles Röttger).


Die Literatur über den Krimkrieg ist bereits recht umfangreich. Den französischen und englischen Werken über diesen Gegenstand (Bazancourt, Kinglake u. s. w.) stehen in Russland verfasste Werke würdig zur Seite (Todleben, Anitschkow u. A.). Auch die Frage von der Genesis dieses Krieges ist bereits Gegenstand der monographischen Darstellung geworden. Im Jahre 1863 erschien in Leipzig die Schrift Friedrich von Smitts: „Wie ward der orientalische Krieg herbeigeführt?“, eine historische Untersuchung, welche auf den Gang der diplomatischen Unterhandlungen vor dem Ausbruche der Feindseligkeiten und während derselben ein helles Licht warf.

Demselben Gegenstande, der Genesis des Krieges, ist die vorliegende, sehr umfangreiche Darstellung gewidmet. Auch wenn auf dem Titel der unbekannte Verfasser nicht als „Diplomat“ bezeichnet wäre, könnte der Leser nicht im Zweifel darüber sein, dass die Darstellung dieser Verwicklungen aus der Feder eines Staatsmannes, eines ehemaligen Gesandten stammt. Eine außerordentlich eingehende Kenntnis des Stoffes, eine bewunderungswürdige Handhabung der Diplomatensprache, eine mehr publizistische als objektiv-historische Behandlung des Gegenstandes zeichnet das vorliegende Werk aus. Es wird in staatsmännischen Kreisen sehr viel Beachtung finden, zweifelsohne auch Aufsehen erregen. Von den Ministern und Gesandten, welche vor etwa einem Vierteljahrhundert an den Ereignissen, die hier erzählt werden, Teil nahmen, sind Viele noch am Leben. Sie werden sich mit besonderem Interesse der Lektüre, dem Studium dieses Buches widmen. Der ganzen Darstellung merkt man es fast auf jeder Seite an, dass hier ein Beteiligter die Feder führte. Es ist ein Plaidoyer für die Politik Russlands, das, bald nach dem Krimkriege verfasst, deutliche Spuren der Erregung an sich trägt, welche in den unmittelbaren Zeugen so großer weltgeschichtlicher Vorgänge begreiflicherweise durch dieselben hervorgerufen werden musste. Das Betonen des Eindrucks, welchen die Wucht der, Russland damals heimsuchenden Schicksalsschläge übte, die Bitterkeit in der Beurteilung der Haltung und Handlungsweise der Gegner Russlands, eine apologetische Art bei Schilderung der russischen Politik, insbesondere der Stellung, Gesinnung und Handlungsweise des Kaisers Nikolaus, — alles dieses ist eben dadurch erklärlich, dass der Verfasser offenbar den Einzelheiten dieser denkwürdigen Vorgänge nahestand, dass er durchdrungen war von Patriotismus und Nationalgefühl. Man wird bei der Lektüre des höchst anziehend geschriebenen Buches zugeben müssen, dass ein solcher, etwas subjektiver, warmer, stellenweise sogar leidenschaftlicher Ton, eine solche mehr memoirenartige, als speziell historische, wissenschaftliche Auffassung den Wert des Buches, den Reiz desselben wesentlich erhöht. Es ist nicht sine ira et studio geschrieben. Es ist, wenn man so sagen darf, eine politische Broschüre im Umfange von nahezu tausend Seiten, per Verfasser sagt wohl einmal gelegentlich (I. 49), er wolle der Rolle eines Erzählers treu bleiben, aber er begnügt sich nicht damit, die ihm in allen Details bekannten Tatsachen zu konstatieren: er beurteilt die Tatsachen; er unterwirft die Handlungen der Staatsmänner aller beteiligten Staaten einer Kritik von dem Standpunkte der Politik, bisweilen von dem Standpunkte der Moral aus; er ist nicht frei von Stimmungen, Verstimmungen; er schreibt pro domo; es ist ihm um eine Rechtfertigung Russlands und insbesondere des Kaisers Nikolaus zu tun und diese Ausführungen lassen es weder an Sachkenntnis, noch an Beredsamkeit fehlen. Es kommt dem Verfasser darauf an, auf die Lehren hinzuweisen, welche man aus den erschütternden Vorgängen während des Konflikts und seit 1852 überhaupt Air die praktische Staatskunst, wohl auch für die Staatssittenlehre ziehen kann. Er ist geneigt, seine Darstellung mit einem „fabula docet“ zu schließen.

F. von Smitt’s Schrift, in welcher die Frage erörtert wurde, auf welche Weise es zum Krimkriege gekommen sei, erschien im Jahre 1863. In demselben Jahre ist auch das vorliegende Werk geschrieben, wie der Verfasser in der Einleitung bemerkt. Er schreibt: „Diese Studie wurde im Jahre 1863 vorbereitet und redigiert, zu einer Zeit, da man noch unter dem bitteren Eindruck jenes so ungerechten orientalischen Krieges stand, welcher das russische Volk in seinen Interessen, seinen Rechten, seiner Würde, in seinem Bewusstsein ein, wenn auch noch junges, so doch durch seinen Umfang und mächtige Lebenskraft wichtiges Glied der Völkerfamilie zu sein, gekränkt hat“. Der Verfasser bezeichnet diesen Krieg als eine empörende Ungerechtigkeit, weil derselbe den Versuch enthalten habe, Russland aus der Völkerfamilie auszuschließen, welcher dieses Reich so bedeutende Dienste geleistet hatte, Dienste, die den Beweis lieferten, dass Russlands Interessen solidarisch seien mit denjenigen Europas. Dieser Eindruck, bemerkt der Verfasser, habe dem Kaiser Nikolaus das Grab gegraben. Er sagt von der moralischen Entrüstung, welche dieser Krieg habe hervorrufen müssen: „Sentiment douloureux qui a conduit au tombeau un noble souverain si complètement identifié avec l’honneur et la prospériti de son pays, qu'il n'a pas pu survivre à ces outrages immérités“. Es sei demnach, fährt der Verfasser fort, unmöglich gewesen, mit kaltem Blute von einem Gegenstande zu reden, welcher jeden treuen Diener Russlands vor Unwillen erbeben mache. Obgleich seit dem Jahre 1863 sich so Vieles in der Weltlage verändert habe, bemerkt der Verfasser weiter, so habe er doch an der Redaktion seines Werkes nichts ändern wollen. Es schien ihm nicht angemessen, den Ausdruck des Unwillens abzuschwächen, welcher gegen die Ungerechtigkeit protestiere, weil die Lehren, die in dem Krimkriege enthalten seien und die praktische Politik zu beeinflussen geeignet wären, durch Beibehaltung des Kolorits jener bewegten Zeit ausdrucksvoller zu wirken vermöchten. „Die Erfahrung“, sagt der Verfasser, „ist die einzige Kompensation, welche die Menschheit aus den ihr auferlegten Prüfungen erhält“.

So blieb denn im Wesentlichen die Redaktion von 1863 bei der gegenwärtigen Edition beibehalten. Indessen ist denn doch an sehr vielen Stellen des Werkes der Ereignisse erwähnt, welche nach dem Jahre 1863 stattfanden, der großen Veränderung in Deutschland, der Vorgänge des Jahres 1866, des deutsch-französischen Krieges, des Sturzes Napoleons III. u. s. w. Es sind dies offenbar später hinzugefügte Ergänzungen des Verfassers, die das Interesse des Buches wesentlich erhöhen. Eine Notiz des Verlegers besagt, dass die Drucklegung des Buches schon im Jahre 1874 vollendet war, dass aber das Erscheinen desselben im Buchhandel aus, von dem Verleger unabhängigen Gründen verschoben werden musste.

Der Verlauf des Krieges selbst ist nicht eigentlich Gegenstand des Buches. Nur ausnahmsweise und ganz kurz ist der militärischen Ereignisse erwähnt, aber wenn dies geschieht, sind die, auf die eigentliche Kriegsgeschichte sich beziehenden Bemerkungen besonders lehrreich. Man nimmt auch hier, wie sonst überall, wahr, dass dem Verfasser Quellen zugänglich waren, welche sonst den Historikern nur in besonders günstigen Fällen zu Gebote stehen. Man lese die bezüglichen Stellen, in denen die Ansichten Paskiéwitschs und Jominis entwickelt werden (Bd. I, S. 513 und II, S. 153), oder in denen von der Entscheidung in der Krim die Rede ist (Bd. II, S. 131— 132). Aber sonst beschränkt sich der Verfasser auf die Darlegung der politischen Lage, auf die Erzählung von dem Verlaufe der diplomatischen Unterhandlungen.

Betrachten wir in kurzen Zügen den Inhalt des Werkes.

In dem ersten, „Considérations préliminaires“ überschriebenen Kapitel schildert der Verfasser die Weltlage in der ersten Hälfte des Jahrhunderts im Allgemeinen und die Stellung, welche Russland West-Europa gegenüber einnahm, insbesondere. Hier ist die Darstellung der Haltung des Kaisers Nikolaus von besonderem Interesse. Die Darlegung des Aufenthaltes des Kaisers in England, 1844, und seiner dort, in Betreff der Türkei geäußerten Ansichten, welche in einem ausführlichen Memoire Nesselrodes weiter begründet werden (S. 12 u. ff.), sind wesentliche Beiträge zur Geschichte der orientalischen Frage. Ferner verweilt der Verfasser bei dem ungarischen Kriege 1849 und berührt auch andere Fälle, in denen Russland als spezifisch konservative Macht für die Erhaltung des Status quo und gegen die Revolution, in welcher Form sie auch auftreten mochte, zu wirken bemüht war. Der Verfasser preist die Verdienste des Kaisers Nikolaus um den Westen und spricht mit harten Worten über den Undank der Mächte, denen Russland in Momenten der Gefahr beigesprungen sei. Im Gegensatze zu der agitierenden Weise Palmerstons, „dessen Hand“, wie der Verfasser bemerkt, „bei allen Revolutionen im Spiele gewesen sei“ (S. 22), lobt er die Haltung Russlands und geht soweit, Russland einen rettenden Einfluss zuzuschreiben. Er bemerkt S. 29. „A la fin de cette mémorable année 1848, la contenance calme et énergique de la Russie avait arrâté la révolution, remis sur leurs pieds les gouvernements ébrahlés, et soutenu l’édifice européen chancelant sur ses bases au Nord comme au Midi, en Orient comme en Occident“.

Je größer aber, nach der Ansicht des Verfassers, die Verdienste des Kaisers Nikolaus um Europa gewesen seien, desto verwerflicher erscheint ihm die feindselige Haltung, welche bei dem Krimkriege alle Mächte Russland gegenüber einnahmen. Nachdem der Verfasser eine Reihe von Zeugnissen der selbstlosen und loyalen Haltung der russischen Politik aufgezählt, schließt er das einleitende Kapitel mit folgenden Bemerkungen: „Dies Alles hätte Europa den klaren Beweis liefern müssen, dass der Kaiser Nikolaus ein großmütiger, loyaler, uneigennütziger Souverain war, welcher seine besonderen Interessen hintenansetzte und nur an das allgemeine Wohl dachte, und dass die besonderen Interessen Russlands und die allgemeinen Interessen Europas einander deckten. Dennoch aber nahte der Augenblick heran, da der Kaiser Nikolaus die Zielscheibe des allgemeinen Hasses und, als ein unleidlicher Despot, als unbeugsam, hochmütig und unersättlich ehrgeizig, von ganz Europa in die Acht erklärt werden sollte; es nahte der Augenblick heran, da Russland der Gegenstand einer feindseligen Koalition, eines ungerechten und verhängnisvollen Krieges werden sollte, weil Russland ein barbarischer Staat, ein Feind der Ruhe und der Freiheit Europas sei! Und mitten in dieser allgemeinen Entfesselung gehässiger Leidenschaft erhob sich keine Hand und keine Stimme zu Gunsten des Souverains und der Nation, denen Europa zum zweiten Male*) seine Rettung verdankte und welche Europa nur großmütige Dienste geleistet hatte! Solche Lehren bleiben unvergessen“.