Ein Volksbrauch aus dem 17. Jahrhundert. (Siehe das Bild auf Seite 53.)

Aus: Das Buch für Alle. Illustrierte Familienschrift. Zeitbilder. Heft 1. 1895
, Erscheinungsjahr: 1895
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Volksbrauch, Ehrenstrafe,
Für eine große Anzahl von Vergehen, die jetzt mit Geld- oder Gefängnis geahndet oder auch der Schlichtung durch den Zivilprozess überlassen werden, da der Staat sie für Privatsachen hält, und kein genügendes öffentliches Interesse gebietet, unaufgefordert dagegen einzuschreiten, gab es früher sogenannte Ehrenstrafen. Es wurde den Missetätern, die sich gegen Sitte und Herkommen vergangen, oder die Gefühle des Volkes verletzt und öffentliches Ärgernis gegeben hatten, ein Schimpf angetan, der sie demütigte, ohne sie an Leib, Leben oder Habe wesentlich zu schädigen. Diese Ehrenstrafen waren im späteren Mittelalter und bis weit in die Neuzeit hinein beim Volke äußerst beliebt, da sie stets Anlass „zu einer Hetz“ gaben, wie der moderne Wiener sagen würde, und dem ganz richtigen, wenn auch rohen Rechtsbewusstsein des Volkes entsprächen.

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Erst die feinere Empfindung der europäischen Gesellschaft des letzten Jahrhunderts hat mit allen noch bestehenden Resten dieser Strafen gründlich aufgeräumt. Unser Bild auf S. 53 stellt die Vollziehung einer solchen Ehrenstrafe, die gleichsam ein gesetzlich anerkannter Volksbrauch war, in: 17. Jahrhundert dar. Der Brauch ist freilich nachweislich viel älter. So bestimmen zum Beispiel die Blankenburger Statuten von: Jahre 1594: „Ist ein Mann so weibisch, dass er sich von seinem eigenen Weibe raufen, schlagen und schelten lässt, der soll des Rates beide Stadtknechte mit wollenem Gewand bekleiden, oder, wenn er dies nicht vermag, mit Gefängnis bestraft und ihm überdies das Dach auf seinem eigenen Hause abgehoben werden.“ Später ließ man es beim bloßen Dachabdecken bewenden, was, wie ein Mainzer Amtsbericht vom Jahre 1666 beweist, noch in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts vorkam. Die männlichen Bewohner des Dorfes, in welchem der Pantoffelheld, der sich von seiner Xantippe prügeln ließ, wohnte, versammelten sich mit Trommeln, Pfeifen und Fahnen vor dem Orte und sandten einige Abgeordnete zum Schultheißen, um die Anklage vorzubringen. Wurde diese nach Anhörung der Zeugen begründet gefunden, so ward die Erlaubnis gewährt, dem unglücklichen Ehemärtyrer „auf's Dach zu steigen“. Man zog vor das Haus desselben, brachte ihm eine Katzenmusik und deckte ihm, falls er sich nicht zur Erlegung einer Strafsumme verstand, das Dach bis zur vierten Latte ab. Der First wurde außerdem eingehauen, und mit Hohn und Schimpf auch nicht gespart. Ein solches Volksgericht gibt unser Bild in lebendiger und anschaulicher Weise wieder. Heute ist von diesem Brauche nichts übriggeblieben, als die noch übliche Redensart, „Einem auf's Dach steigen“.

Aufs Dach steigen, ein Brauch aus dem 17. Jahrhundert

Aufs Dach steigen, ein Brauch aus dem 17. Jahrhundert