Ein Ungewitter in den Alpen.

Aus: Das Buch für Alle. Illustrierte Familienschrift. Zeitbilder. Heft 3. 1868
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Alpen, Ungewitter, Natur, Umwelt, Wetter, Blitz, Donner, Schlagregen, Platzregen, Unwetter, Hochgebirge
Wer je im Hochgebirge der Alpen gewandert ist, dem mussten jene zahlreichen Szenen der Zerstörung ausfallen, welche da und dort die Wahrheit des Schiller'schen Verses predigen, dass „die Elemente hassen das Gebild der Menschenhand,“ — jene verschütteten Häuser und Felder und Wiesen, welche in Folge eines Hochgewitters und der dasselbe begleitenden furchtbaren Wasserfluten 12 — 20 Fuß hoch mit Schutt und Steinen bedeckt worden sind und nun auf ewige Zeiten als Steinhaufen und Sandwüsten daliegen. Ist ein Gewitter überall und zu jeder Zeit etwas furchtbar Imposantes, so offenbart es gerade in den Alpen am furchtbarsten seine großartige verheerende Majestät, umso mehr als es im Hochgebirge gewöhnlich an irgend einen bestimmten Ort sich anheftet und lokalisiert und demselben seine ganze entsetzliche Zerstörungskraft entfaltet. Die Gewitterwolken treten in den Alpen beinahe niemals als jene großen, mit Elektrizität überladenen Schichtwolken auf, welche im Flachlande einen meilengroßen Flächenraum einnehmen und sich mit einer gewissen Gemächlichkeit entladen. Nein, der stete Luftzug in den Alpen wirft die elektrisch gefüllten Wolken hin und her, verdichtet sie in kleinere Wolken, die sich auf einem ganz beschränkten Raume fixieren und an gewisse Berghänge oder Einbuchtungen anheften und dann mit einer Gewalt und Plötzlichkeit, ja mit einer Wut entladen, gegen welche ein Gewitter im Flachlande nur eine Art Kinderspiel ist.

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Nichts gleicht der furchtbaren Wucht der Blitze und Donnerschläge dieser Hochgewitter, der unvermittelten Plötzlichkeit ihrer Erscheinung in den Alpen. Der Himmel verliert wie durch Zauberschlag seinen hellen klaren Farbenton und verwandelt sich in das düstere Grau eines Nebelgerischels. Licht und Leben verschwinden aus der Landschaft bis auf einzelne launenhafte grelle Lichter, die sich auf hervorragende Punkte konzentrieren. Über die Fichten- und Lärchenwälder senken sich schwarze Schatten herab, welche alle Umrisse verzehren; die kolossalen Felsenwände, die zackigen Gipfel des Hochgebirges verlieren ihre kühnen Formen und versinken in eintöniges Grau. Der tiefblau, Alpensee verliert seinen Glanz, wie das gebrochene Auge einer Leiche, und geisterhaft, grell leuchtend, eisigkalt schauen die Gletscher und Schneefelder aus dem düstern Grau auf die erstorbene Landschaft hernieder. Eben in demselben Maßstabe, wie das heitere Licht aus der Landschaft schwindet, bemächtigt sich auch des Menschen und der Tiere eine unbeschreibliche bange Beklommenheit, eine fieberhafte Unruhe. Die Vögel verstummen und fliegen ängstlich und eilig umher, suchen ihre Nester, Horste und Aufsitze, die bunten Schmetterlinge und Käfer verschwinden, die Heimchen verstummen, die zerstreuten Ziegen laufen zusammen und schnuppern unruhig in die Luft, das Hornvieh und die Pferde hören auf zu weiden, blöken und wiehern ängstlich und drängen sich auf einen Haufen, oder flüchten sich unter den Schutz von Steinblöcken und Felswänden, bis der Senn kommt und sie zusammentreibt, während Andere noch das Heu und Nachheu zusammenraffen oder die Heustöcke mit Steinen beschweren, damit sie das Wasser nicht fortreißt.

Das Alles ist aber nur Vorspiel des Gewitters, und gibt sich mehr als Stimmung kund, bis der Wind aus den Schlünden der Berge hervorbricht, die ächzenden Wälder schüttelt, die Wellen des stillen Sees aufwühlt und abgerissene Blätter, Sand, Steine, Staub vor sich her treibt, zugleich aber alle Spitzen der Felsen, alle vergletscherten Berghäupter in graue Schatten hüllt, die als Nebelballen allmählich heruntersinken, vom Winde zerrissen werden und als graue Wolkenfetzen mit wachsender Eile und Hast durch das Tal ziehen. Dann aber zuckt der erste grelle Blitz in einem entsetzlichen gewaltigen Strahle durch das graue Gewölle, gefolgt von einem fürchterlichen Donnerschlag, der grausenhaft im Echo durch die Täler und Schluchten des Hochgebirges hallt, und nun plötzlich erscheinen die Schleusen des Himmels wie geöffnet, und ein Platzregen strömt hernieder mit einer Wucht, von der man im ebenen Lande keine Ahnung hat.

Das ist für den Hirten der kritische Moment. Vom Blitze geblendet, vom Donner scheu gemacht, vom Regen gepeitscht, wird das Vieh auf den Almen ungeberdig, verliert den Kopf und rennt blindlings hin und her, oft an den Rand der Abgründe, wo es leicht hinunterstürzt. Da muss denn der Senn oft das eigene Leben daran setzen, solche scheu gewordene Tiere zurückzuholen und vor dem Sturze zu bewahren, namentlich junges Vieh, das diese Wut der Elemente noch nicht oft mitgemacht hat und wie toll unter ängstlichem Blöken umherrennt und auf keinen Zuruf mehr hört. Des Hirten ganzes Dichten und Trachten geht nur dahin, die Herde zu sammeln und nach der Sennhütte hinunter in die Ställe oder wenigstens in die Umzäunungen zu treiben. Er hat nicht Zeit, auf die furchtbaren Zerstörungen zu achten, welche das um ihn tobende Ungewitter anrichtet, wie es Bäume entwurzelt, Felsen herabstürzt, wie die auf irgend einer leichtgeneigten Hochmatte sich ansammelnden trüben Wasserfluten mit einer unaufhaltsamen Riesenkraft herunterstürzen, ganze Straßen durch die alten Bergwälder, ganze Felsenblöcke mit sich fortwälzen, und ganze Trümmerhalden davon schwemmen und mit immer größerer Gewalt zu Tal führen! Unter dem Heulen des Sturmes, dem Prasseln des Regens, dem Rollen des Donners hört er nicht, wie diese Steinblöcke poltern und krachen, wie die vom Hochgebirge herunterstürzenden Wassermassen mit dämonischer titanischer Gewalt durch die sogen. Runsen tosen, d. h. durch die tief eingewühlten Betten der Bergbäche, die ganz mit Trümmersteinen und Schutt bedeckt, oft 40 bis 60, ja 100 Fuß tief eingerissen, an den steilen Berghängen sich heranziehen nach den Talsohlen oder von einer Talterrasse zur andern, und nun einem furchtbaren schwarzbraunen Katarakte gleichen, der ganze Baumstämme, Felsblöcke, Schutt, Grus und Sand mit unaufhaltsamer, alles niederreißender Wut dahinwälzt, bis er unten im Tal das mitgeführte Gestein in den Betten und auf den Ufern der Wasserläufe angelagert, wo die angsterfüllten Talbewohner in fieberhaftem Selbsterhaltungstriebe mit Stangen, Schaufeln und Hacken auf den Steindämmen und Währen stehen und der Stauung zu begegnen suchen, die ihre Wiesen und Felder rettungslos unter dem Schutt und Grus begraben. Das ist ein Gewitter im Hochgebirge!

Ein Ungewitter in den Hochalpen

Ein Ungewitter in den Hochalpen