Chortitza-Rosenthal, am 8. Oktober 1919.

Noch ehe es Nacht wurde, füllte sich unser Haus von neuem. Wir ließen den Ältelten durchs Fenster steigen, und dann ist der alte Mann in die finstere Nacht gegangen, watend im tiefen Schlamm, der sich nach dem Herbstregen fast knietief gebildet hatte. Ich wagte mich heute auf die Straße. Niemand von der heimischen Bevölkerung ist mir begegnet. Man wagt es nicht. Die Straßen sind sehr belebt Aber es sind nur Anarchien, die von einem Hof zum anderen gehen. Reiter sprengen auf dem Bürgersteig dahin, als wäre jeder ein Meldereiter. Ich sehe ihnen mit meinen Wickelgamaschen offenbar ähnlicher, als die Kolonisten in ihrer ärmlichen Kleidung; denn keiner hält mich an. Ich passte mich übrigens ihrem Gebahren an. Ich sah so frei drein, dass ein paar Anarchisten grüßten. Ich hatte Schuhe an und war rasiert, was man an den Kolonisten nicht beobachten kann. Rasiermesser und Schuhe sind allenthalben zuerst gestohlen worden.

Heute war unser Nachbar W., den ich seit vierzehn Tagen nicht sah, bei uns. Ich erkannte ihn kaum. Grau ist er geworden.


Frau Grete kam heute auf eine verwegene Idee. Ihre Kuh ist geltem gestorben. Der kleine Russenjunge hat gesehen, dass im Stalle ihres geflüchteten Bruders noch eine Kuh steht. Frau Grete kleidete sich an wie eine arme Bettlerfrau und ging mit einem Sack über der Schulter in das Haus ihres Bruders. Dort trat sie vor den Bandenführer und redete ihn an: „Höre, ihr streitet doch für die Armen, nicht wahr? Ich bin eine arme Frau, und möchte in den Besitz einer Kuh kommen. Gebt mir die Kuh heraus, die hier im Stalle steht“!

„He du“, erwiderte jener, „die Kuh behalten wir; aber du kannst sie täglich melken. Dafür nimmst du dir etwas Milch mit für deine Kinder“. Frau Grete wusste, dass die Kuh ebenso gut morgen schon verschwunden sein konnte wie auch dieser Mann. Sie ging in den Stall und entführte die Kuh.

Als man ihr nachrief, erwiderte sie kühn: „Ich nehme sie mit und melke sie zu Hause, ihr trinkt ja doch die Milch, wo immer ihr seid“!

Jene lachten: „Teufelstochter“! Der freche Diebstahl flößte ihnen Achtung ein. Sie ahnten nicht, dass Frau Grete ihrem Bruder die Kuh retten wollte.

Nachmittags. Ich war im Seminarkeller bei meinen Schützlingen. Sie sind nicht entdeckt worden, aber nun merken wir, was alles ihnen fehlt. Am Tage nach der Flucht war ich mit einer Tochter im Hause, um einige nötige Sachen zu holen, aber wir fanden nichts mehr, das in der Tat von Nutzen gewesen wäre. Es war keine Decke mehr vorhanden.

Heute nun erzählen sie mir, dass auch ihr Haus in Schutt und Asche läge. Traurig ließen sie den Kopf hängen. Obdachlos! Und der Winter ist vor der Tür. Es wird schon kalt draußen Der Familienvater ist nicht da. Das ist das Schicksal vieler. Wen wundert es, wenn viele dieser Unglücklichen sterben wollen?

Und der Kampf am Dnjepr dauert noch an. Jene drüben können nicht herüberkommen und diese nicht hinüber. Die Anarchisten setzen sich fest auf dieser Seite. Selbst Fernsprecher haben sie mitgebracht, in unserem Haus ist eine Fernsprechstelle errichtet. 8 Mann Bedienung sind dabei. Man wird aus ihrer Sprache nicht klug, denn sie bedienen sich vereinbarter Kennworte, die ihre Unterhaltung für uns unverständlich machen. Wie sehr wir auch die Ohren spitzen, wir erraten den Sinn nicht. Mein Freund erzählt mir, dass die Telefonisten ihn nach mir ausgefragt hätten. Mein Aussehen hat sie befremdet. Ich trage ausländische Kleider und einen Filzhut. Mein Freund hat ihnen gesagt, der Mann, dessen Aussehen sie so befremdet hätte, sei ein Schriftsteller. „Also ein Dichter“, hat der Kommandant wichtig betont. Seither begegnen sie mir mit Achtung. Wir haben nicht geahnt, dass ein Dichter in ihren Augen als etwas Besonderes galt. Die Telefonisten meinen, gebildet zu sein, weil sie schreiben und lesen können. Sie sehen offenbar ein, dass sie uns durch brutales Austreten nicht imponieren und wollen als intelligent gelten. Das muss ich mir zunutze machen.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Ein Tagebuch aus dem Reiche des Totentanzes