Chortitza-Rosenthal, am 7. Oktober 1919.

Gestern Abend verließ untere Einquartierung das Haus, um an die Front zu gehen. Am Dnjepr entlang hat sich eine Kampffront gebildet. Für den Kampf scheinen auch diese sonst so regellosen Haufen eine gewisse Organisation zu haben. — Es ist ein wüstes Knattern und Schießen. Von der Gegenseite, von der Stadt Alexandrowsk aus, wird unser Ort aus Geschützen beschossen. Aber das schreckt uns nicht. Ganz nahe unserem Hause krepierte ein Geschoß mit einem ohrenbetäubenden Knall Die Splitter liegen vor unserer Haustür. Wir atmen auf, weil wir glauben, dass es eine Frontverschiebung gibt.

Der Kirchenälteste hat sein Häuschen verlassen müssen. Er hat gar nichts gerettet. Er muss sich verstecken. Ein paar Nächte versteckte ich ihn in meinem Zimmer. Er hört schwer und bat mich, ihn zu wecken, falls er einschlafen sollte. Der alte Mann, der sein Lebtag ein wahrer Seelsorger gewesen ist, schläft hier wie ein Flüchtling ohne Ruh und Haus in meinem Bett. Es ist tragisch. Man hat es auf ihn besonders abgesehen. Er weiß nicht, wie sehr man ihm nachstellt. Wir schonen ihn. Aber heute Nacht soll er fort; wir wollen ihn dazu überreden. Es ist dunkel, kalt und schmutzig draußen. Er muss seine Gemeinde verlassen, und sich wie ein Dieb in der Nacht durch Schluchten und Täler fortstehlen. Ich weiß, er wird sich weigern. Aber er kann uns nichts nützen, denn man schont sein Leben sicher nicht. Hoffentlich kommt er ungesehen fort.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Ein Tagebuch aus dem Reiche des Totentanzes