Chortitza-Rosenthal, am 5. Februar 1920.

Nun frage ich mich: war die Krankheit das Schlimmste, was uns in den letzten Monaten betraf? Kaum ! . . .
Wenn ich höre: heute brachte man 20 Särge an unserem Hause vorbei, und gestern waren es 12 — so regt mich das nicht so auf wie das Gerücht: Sie kommen wieder, die Anarchisten! Die Gerüchte haben so viel Wahrscheinlichkeit. Sie kamen wirklich wieder. Dreimal kehrten sie wieder. Warum nicht auch ein viertes Mal!

Zum letzten Mal zogen sie um Weihnachten und Neujahr plündernd und raubend durch die deutschen Kolonistendörfer. Die drei Industrieortschaften kamen wieder am schlechtesten weg. Diesmal wurden die Anarchisten nicht von den Weißen, sondern von den Roten, den großrussischen Bolschewiki, getrieben. Ich erinnere mich noch ganz deutlich jenes schrecklichen Abends, als es uns am schrecklichsten ging. Es war der Heilige Abend vor Weihnachten, wenn sonst in diesen Häusern der Tannenbaum zu brennen pflegt.


Weihnachtsstimmung — wo war sie?! Wir lagen alle auf dem Krankenlager. Eine Verwandte, ein 20jähriges, opferfreudiges Mädchen, in deren Hause ich jene erste verhängnisvolle Nacht im September vorigen Jahres zubrachte, pflegte uns. Es mag zehn Uhr gewesen sein, als plötzlich während der stillen, dunklen Nacht das Fenster erdröhnte von schweren, wuchtigen Schlägen. Raue Männerstimmen befahlen zu öffnen. Wie eine Taube im Sturm, so flüchtete die arme Pflegerin zu mir, die nur zu gut wusste, welcher Art sie waren. Aber ich konnte mir selbst nicht helfen. Die Stimmen draußen wurden immer lauter; sie drohten, die Tür zu sprengen oder das Haus anzuzünden. Es war ein herzzerreißender Anblick für mich, als die arme Tina sich mit Bangen und Zagen entschloss, den Räubern die Tür zu öffnen. Gleich einem Orkan stürmten sie brüllend in das dunkle Haus. Sie forderten Licht und zündeten selbst die armselige Ölfunzel an, die aufgespart wurde für die allernotwendigsten Fälle im Krankenzimmer. Zuerst setzten sie sich um den Tisch herum und ließen sich vortragen, was im Hause vorhanden war. Sie aßen das letzte Brot auf und tranken die letzte Milch aus. Dann stürzten sie sich gierig auf Schränke und Kommoden. Die Schubladen wurden mit Krachen mitten ins Zimmer geschleudert. Sie gebärdeten sich so wild, als ob sie uns gleich alle erstechen würden. Irgendeine Rücksicht auf die Kranken nahmen sie nicht. Sie trieben den Hausherrn vom Lager und nahmen ihm den Pelz weg, auf dem er lag. Sie verhöhnten den armen Kranken, als er sie fragte, worauf er denn liegen sollte.

Ich lag im Nebenzimmer und hörte den Vorgang mit steigender Fieberhitze. Jeden Augenblick mussten sie zu mir hereinkommen. Fräulein Tina schob schnell meine Kleider unter meine Kissen und stand neben meinem Bett ebenfalls in spannender Erwartung. Wie wollte ich das Mädchen retten? Wohin sollte sie gehen? Waren doch sicher in allen Häusern solche Gesellen! Wir hörten das Fahren der Fuhrwerke draußen.

Da fiel mir ein, dass der Nachbar, ein Zahnarzt, die Krankheit bereits überstanden hatte. Dort war es sicherer für Tina. Sie verließ auf meinen Rat das Haus und blieb verschont.

Endlich näherten sich schwere Tritte. Die Tür flog auf, und drei wüste Gesellen umstanden mein Lager. Sie fragten nach Stand und Nationalität. Lehrer? wiederholten sie und sahen sich im Zimmer um. Es stand nur ein Tisch darin, und sie entfernten sich so geräuschvoll, wie sie gekommen waren. Der Durchzug währte drei Tage und drei Nächte. Nun ging es wieder zu wie acht Tage vorher. Wenn eine Gruppe das Haus verließ, kam eine andere herein. Draußen war es grimmig kalt, und das Brennmaterial ging zur Neige. Tina und ihre Schwestern kamen wieder und sorgten für uns, so gut sie konnten Ich höre noch die armen Kühe im kalten Stalle brüllen. Das Futter hatten die Anarchisten bis auf den letzten Halm ihren Pferden verfüttert. Milch gab es nicht mehr. Die Kranken begehrten allerdings nicht viel zu essen; aber wer das Bett verließ, hatte einen umso größeren Hunger. Der entkräftete Leib verlangte zum Neuaufbau kräftige Nahrung, wie Fleisch und Milch.

Eines Tages trugen mich die Anarchien samt dem Bett in das Zimmer zu den anderen Kranken und nun lagen wir eng aneinander gepfercht und litten gemeinsam. Sie richteten sich ein in den übrigen Zimmern.

Erst nach Neujahr gab es eine Wendung zum Besseren.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Ein Tagebuch aus dem Reiche des Totentanzes