Chortitza-Rosenthal, am 4. Februar 1920.

Gestern hatte ich einen kleinen Rückfall. Die Erinnerung regt auf und tut weh. Heute ist mir wieder bedeutend besser. — Ich habe einen unstillbaren Hunger, aber die Leute haben selber nichts zu essen. Außer den drei Kranken sind alle übrigen Genesende und wir haben Mühe, uns vom quälenden Hunger nicht ganz beherrschen zu lassen. So geht’s im Nachbarhaus und im ganzen Ort. Die russischen Nachbarn fühlen lieh nicht veranlasst, den ausgeplünderten Kolonisten Hilfe zu bringen. Allerdings gibt es rühmliche Ausnahmen. — Ich habe etwas geruht und schreibe weiter. Ich gehe zurück in der Erinnerung. Nach jener fast endlosen Nacht kam trostlos der Morgen. Es wurde Tag im Raum, die Uhr schlug neun und niemand sah nach uns. Das Zimmer war kalt, die Fenster waren dicht befroren; aber niemand war da, der den Ofen heizte.

Da fiel mir plötzlich ein, dass die Haupttür verschlossen war, und deshalb niemand zu uns hereinkommen konnte. Wohl mehr als dreimal versuchte ich vergebens, aufzustehen, die Gegenstände schienen sich im Raume unsicher zu drehen. Aber Einsicht und Überlegung riefen den Willen an und der zwang die Leibeskräfte zum Äußersten. Es gelang mir, mich notdürftig anzukleiden. Dann tastete ich wie im Taumel an der Wand hinaus. Mit linkischem Griff — meine Erinnerung malt mir meine Ichwankende Gestalt an die Tür — drehte ich den Schlüssel um und gab der Tür einen Stoß. Die kalte Außenluft ließ mich erschauern. Ich weiß noch genau, wie mir zumute war, als sei ich ein Fremder, mir selber fremd. Kaum überlegend, tastete ich am Zaun entlang bis zum Nachbarhaus. Ich fragte, ob jemand zu Hilfe kommen könnte. Auch hier war alles krank. Nur ein junges Mädchen hielt sich aufrecht. Sie hatte als erste die Krankheit überstanden und sah noch sehr bleich aus. Sie wollte kommen, wenn ihre Familie versorgt war. Ich verstand, dass sie mehr versprach, als sie halten konnte und verließ schweigend das Haus, um gleich daneben einzukehren. Zwei Männer hantierten in der Küche: sie waren in ihrem Hause die Übriggebliebenen. Sie erschraken, als sie meiner ansichtig wurden. Offenbar sah ich einem Gefunden wenig ähnlich. Einer beschloss, sofort mit mir zu gehen. Er führte mich. Als er den Ofen heizen wollte, fand er weder Brennmaterial noch Zündhölzchen. Kurz entschlossen brach er zwei Staketen vom Zaun und holte von Haus zwei kostbare Streichhölzchen. Mehr konnten sie nicht entbehren.


Gegen Mittag kam mein Kollege, dem ich geschrieben hatte und brachte mich in das Haus seiner Schwester, wo noch ein leeres Bett war. Seither liege ich nun in diesem Hause, hart an der großen Straße.

Oben aber in dem Häuschen, wo ich früher wohnte, ist der Tod eingekehrt; er hat Mann und Frau geholt. Mein Freund und Frau Grete sind nicht mehr. Verwaist sind die Kinder bei der hilflosen Großmutter zurückgeblieben.

Und gerade meinen Freund hätte ich nicht sterben lassen, wenn ich über Tod und Leben zu verfügen hätte. Er schien mir unersetzlich. Eine Künstlernatur durch und durch; ein Lehrer, wie wir sie leiten hatten, verstand er es, der Jugend die Augen für das Schöne zu öffnen; er lehrte sie leben und ästhetisch empfinden und half den jungen Menschen geschickt die Gegenstände der ästhetischen Empfindung mit Hilfe der Zeichen-, Mal- und Klebekunst festzuhalten, so wie sie in einem günstigen Augenblick gesehen und empfunden waren. Auf ihm ruhte die Hoffnung der wenigen Hochgebildeten, die den Glauben hatten, dass sich durch ihn die realistisch-materialistische Denk- und Handelsweise der deutschen Kolonisten in Russland allmählich zu einem Kunstverständnis und geistigen Kunstbedürfnis heranbilden würde. Mag sein, dass diese Hoffnung kühn war; aber eines bleibt bestehen: die Frucht seiner bisherigen Arbeit ist das erwachende Kunstbedürfnis unserer Jugend. — Den Mann brauchen wir. Wir müssen ihn zurückhaben! Müssen wir? Was ist’s mit unserer Zukunft? Wer lebt denn noch? Liegen wir nicht noch alle in den Klauen des Todes?

Und doch! Wer lebt, muss hoffen! Ich will kühn wie ehemals den Glauben an untere Zukunft festhalten. Freund, ruhe sanft! Dein Geist starb nicht mit dir! Erbärmlich ist’s, zu jammern und zu klagen! Wir wollen . . . O weh, die Stiche! — —

Nachmittag. Die Aufregung tat mir weh. Ich fiel in die Kissen zurück. Und doch ist es ein unabwendbares Bedürfnis für mich, die Erlebnisse, die bohrenden Gedanken und starken Gefühle auszusprechen oder niederzuschreiben. Meine kleine Freundin, die mich während meiner Krankheit so treu und oft besuchte, ist wohl krank geworden. Sie kommt nicht mehr. Ich sehne mich nach ihr. Ihr reger Geist, ihr verständnisinniger Blick, ihr redliches, keusches Gemüt — das fehlt mir. Darum muss ich schreiben.

Der Flecktyphus ist eine heimtückische Krankheit. Immer die entsetzlich hohe Fiebertemperatur! Allerlei Wahnvorstellungen gehen einem durch den Kopf. Die langen, dunklen, schlaflosen Nächte! Wer kann die vergessen? Mir graute jedes Mal, wenn gegen drei die Nacht auf mich herabfiel. Hätte ich schlafen können oder wäre ich besinnungslos geworden, wie so viele andere, die Zeit wäre nicht so endlos geworden. Oft lag ich da und fand mich nicht zurecht. Bald schien mir die eine Hälfte des eigenen Leibes nicht mehr zu gehören; sie war mir lästig. Dann wieder befremdeten mich die Beine, der ganze Unterleib bis herauf zur Brust, er gehörte gleichsam nicht zu mir, und das beengte und quälte.

Ähnliche Empfindungen hatten andere Kranke auch.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Ein Tagebuch aus dem Reiche des Totentanzes