Chortitza-Rosenthal, am 30. Oktober 1919.

Keine Rettung in Sicht! Vertiefung des Elends! Typhuskrank liegen Anarchisten in den Häusern. Wen wundert es, wenn diese Menschen, die keine Gesundheitspflege kennen, krank werden. Aber auch wir sind rettungslos dieser ansteckenden Krankheit preisgegeben. Wir haben weder Seife noch Wäsche zum Wechseln. Selbst Kämme und Rasiermesser fehlen uns. Wir sehen aus wie Barbaren mit struppigem Haar und ungepflegtem Bart. Ich besitze zwar noch einen Rasierapparat im Versteck, aber ich darf ihn nicht mehr gebrauchen, denn sobald sie merken, dass ich rasiert bin, würden sie das Messer von mir verlangen.

Auch in unserem Hause liegen drei Mann krank darnieder. Frau Grete nimmt sich der Kranken an in warmer Nächstenliebe: sie denkt nicht daran, dass es unsere Peiniger sind, sondern pflegt die Hilflosen mit aufrichtiger Besorgnis. Wenn sie in irgendeiner Kellerecke noch etwas hatte verborgen halten können, jetzt gibt sie es her: das Letzte an eingemachten Kirschen setzt sie ihnen vor. Sie kocht den durstigen Kranken Tee, so oft sie wollen, obgleich sie vor Abmattung fast zusammenbricht. Während der Dicke alles wie selbstverständlich annimmt, regt sich bei Fedja eine tiefe Dankbarkeit. Er fühlt, dass er die Krankheit überstanden hat. Zum Zeichen seiner Dankbarkeit schenkt er ihr einen Hundertrubelschein. Sie habe ihn vom Tode errettet, ohne diese Pflege wäre er umgekommen.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Ein Tagebuch aus dem Reiche des Totentanzes