Chortitza-Rosenthal, am 27. Oktober 1919.

Ein jeder hat sein besonderes Schicksal. Kaum eine Familie, scheint mir, hat so viel Schicksalsschläge erdulden müssen, wie die Familie W. Ich lernte sie kennen schon während unserer Sklavenzeit. Das Haus dieser Familie steht nicht fern ab von uns und ist zu erreichen, ohne dass man auf die Straße zu gehen braucht. Nachdem ich die Familie einmal besucht hatte, wurde ich gebeten, öfters zu kommen. Es ist mir verständlich. Ein jeder hat das Bedürfnis, einmal einen Nicht-Anarchisten zu sehen, um sich aussprechen zu können. Für die Familie W. wurde ich gewissermaßen der Beichtvater. Es sind feinfühlende Menschen und darum leiden sie seelisch mehr als viele andere. Besonders der Vater ist es, der sich innerlich martert. Jedes Mal, wenn ich auf einige Minuten hinübergehe, sehe ich an seinen schmerzverzehrten Gesichtszügen, wie ungeheuer er darunter leidet, dass er zu schweigen hat, wenn freche Eindringlinge sein Haus betreten, zu schweigen, wenn sie sein Haus einnehmen und die Familie auf zwei kleine Zimmer beschränken, zu schweigen, wenn rohe Gesellen Schränke und Kommoden leeren, zu schweigen, wenn beutegierige Diebe die Taschen nach Uhren, Messer und Geldbeuteln absuchen, wenn sie ihm den Ehering vom Finger ziehen, ja zitternd zu schweigen, wenn die Ehre der Töchter bedroht erscheint. Als es ernst damit wurde, als man seine schöne große Tochter wegholen wollte, da hat er nicht mehr schweigen können, da hat er gesprochen, jedoch nicht so, wie ihm die Gefühle die Ausdrücke eingaben. Er ist mit Aufwand der ganzen Willensenergie der Überlegung gefolgt und hat mit den Mädchenschändern in ruhigem Tone gesprochen, hat ihnen einzureden versucht, dass seine Tochter krank sei und das Bett hüten müsse. Er hat sie versteckt, denn er wusste, dass sie unrettbar verloren gewesen wäre, wenn sie gefunden würde. Und hatte er sie einmal gerettet, so bestand die Gefahr immer noch, so lange sie in unserem Orte blieben. Und sie sind wiederholt gekommen. Die seelische Spannung von einem Besuch bis zum anderen fraß an seinem Mark mehr als der Besuch selbst. Die Nervosität ließ ihn nicht mehr schlafen. Und gelang es endlich einmal nach langem Kampf, sich zu beruhigen, den Schlaf, den einzigen Tröster in dieser Zeit, zu finden, dann kam sicher nächtlicher Besuch, und dann half kein Widerstreben: man musste die Nachthyänen einlassen. Von neuem krampft das Herz sich zusammen, wie wenn es von Adlerklauen gepackt würde; man sieht fröstelnd vor Kälte und Aufregung die Gesellen ins Haus kommen. Sie wühlen an allen Ecken und Enden und behandeln die Hausbewohner wie Übeltäter, wie Feinde, an denen man sich rächen muss. Und solche Besuche wiederholen sich in mancher Nacht vielmals! Dieser Mann empfindet sein Schicksal noch schmerzlicher, weil seine Nerven schwach sind! — Eines Tages platzte ein Geschoss in unmittelbarer Nähe des Hauses. Die Fensterscheiben zerbrachen. Sie mussten durch Bretter oder Kissen ersetzt werden. Dieser Mann klagt mir seinen Gram, und diese Klage ist vielleicht die einzige Rettung für ihn. Es ist ihm ein Trost, wenn jemand ihm mit Verständnis zuhört.

Dass wir auswandern müssen, wenn wir am Leben bleiben, ist uns selbstverständlich. Wir sprechen viel von Ländern mit geordneten Verhältnissen und besseren sozialen Zuständen und noch besser erzogenen Staatsbürgern. Es klingt wie eine beruhigende Musik, wenn ich von meinen Erfahrungen in fremden Ländern spreche. Dann vergisst er für einen Augenblick sein Leid. Weil ich dies weiß, bringe ich gern das Gespräch auf dieses Thema. Aber jedes Mal, wenn ich wiederkomme, finde ich diesen Mann in Verzweiflung. Er kann, wie so viele, nicht mehr auf einen guten Ausgang, auf bessere Zeiten hoffen. Das Nicht-mehr-hoffen-können ist das Fürchterlichste, was ein Mensch erleiden kann.


Unser Schicksal hat kein Erbarmen mit uns. Gestern besuchte ich die Familie W und fand sie apathisch. Man überreichte mir einen Brief, den ihnen ein Verwandter auf einem Schleichweg zugestellt hat. Er lautete so: „Liebe Geschwister! Mit versteinertem Herzen und verwirrten Gefühlen schreiben wir Euch dies. Sie kamen zu uns ins Haus Sie zogen uns aus bis auf die Unterkleider und begannen ihr grausames Spiel mit uns. Sie schossen unserm alten Vater durch beide Handflächen und zwangen ihn dann, sich mit ihnen an den Tisch zu setzen und Branntwein zu trinken. Er sollte anstoßen mit ihnen. Vater sah uns mit einem Blick an, der ein tiefes Weh widerspiegelte und uns in die Seele schnitt. Wir standen da in stummer Qual und ließen uns verhöhnen. Aber nicht genug damit. Bruder Johann schlugen sie mit schartigen Säbeln ins Gesicht und versuchten, ihm die Arme abzuhauen. Er floh und später fanden wir ihn in der Spreu liegen. Sie, die wir nicht zu benennen vermögen, weil kein Wort ausreicht, sie zu bezeichnen, sie haben sich geweidet daran, wenn sie dem Sterbenden die Qual vermehrten, indem sie Spreu in seine Wunden streuten. Unser jüngster Bruder versuchte, sie durch energisches Auftreten einzuschüchtern; aber sie schossen und hackten ihn nieder. Unsern Neffen Franz schlugen sie mit Knuten und stumpfen Gegenständen, bis er bewusstlos niederbrach und nicht wiedererwachte. Henrich versuchte mit Frau und Kind zu fliehen; aber ihn fanden wir später tot im Vorgarten. Auch wir sind verwundet: mein linkes Ohr ist zur Hälfte ab, an der Stirn habe ich tiefe Wunden, auch die Hand trage ich verbunden. Ein Hemd dient als Verbandsstoff. Wir haben unsern Wohnort verlassen und halten uns bei Freunden im Nachbarort versteckt. Wir nennen keine Namen, weil es ungewiss ist, ob dieser Brief nicht in Unrechte Hände gelangt. Unser Haus soll inzwischen eingeäschert worden sein. So hört auch Petersdorf auf zu existieren. Von Eurem Ort meldet man hier auch Schreckliches. Ob Ihr noch alle am Leben seid?

Ihr Lieben, wenn wir uns noch einmal sehen sollten in diesem Leben, dann wollen wir uns an den Händen fassen und ohne Umsehen das Land unserer Schmach für immer verlassen.“

Ich ließ das Blatt auf den Tisch fallen und sah auf. Verzweiflung! Was sollte ich sagen? Worte kamen mir zu unbedeutend vor gegenüber solchen Wuchtschlägen; man protestiert auch nicht mit Worten gegen so elementare Erscheinungen wie Blitz und Donnerschlag. Stumm drückte ich ihnen die Hand und entfernte mich.

Den ganzen Tag beschäftigte mich heute das Schicksal dieser Familie. Ich begreife, dass diese Menschen, die bibelfeste Christen sind, verzagt rufen: Lebt unser Gott? Es ist zu viel! — Wer nicht erlebt hat, was wir erleben, wird nie begreifen, was wir ertragen.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Ein Tagebuch aus dem Reiche des Totentanzes