Chortitza-Rosenthal, am 24. September 1919.
Kein Mensch hat gestern daran gedacht, dass Sonntag war. Wir kamen gar nicht zur Besinnung. Drei Tage lang ziehen die Anarchisten nun schon durch unseren Ort. Viele Tausende sind vorbeigekommen, und jeder hat geraubt. Man hat den Landwirten kein einziges Pferd gelassen Und jetzt sollte die Wintersaat bestellt werden! Aber wer denkt an seinen unbestellten Acker? Solange die Machno-Leute bei uns sind, ist unsere einzige Sorge, das Leben zu erhalten. Die meisten sind so gefügig, dass sie widerspruchslos ihre letzten Stiefel ausziehen und barfuß gehen. Schwerer ist für die Bauern, zuzusehen, wie man ihren Weizen wegholt, wie man das letzte Mehl den Pferden verfüttert. Am schlimmsten ergeht es den Familien, deren Söhne in der sogenannten Freiwilligen-Armee des Generals Denikin dienen. Da gibt es keine Schonung. Gestern Abend wurde ein Nachbarhof durch Feuer zerstört. Man wusste, dass der Sohn in der Freiwilligen-Armee war. Es war ein großer Hof. Auf dem Boden lag viel Getreide, das Wohnhaus war neu, Stall und Scheune waren voll von Futter, Ackergeräten und Maschinen, ich ging an der Brandstätte vorbei. Ich sah Bewaffnete am Tore und auf dem Hofe, die nicht gestatteten, dass irgendetwas gerettet würde. So wurden mehrere Häuser vorsätzlich eingeäschert. Nachts brannte das großes schöne Haus des Fabrikbesitzers ab. Weithin leuchtete der helle Schein.
Aber weit schlimmere Dinge geschehen. Männer werden erschlagen, Frauen geschändet.
Gerüchte sind im Umlauf, dass die Zahl der Anhänger Machnos lawinenartig wächst. Man spricht von 100.000 Mann. Sicherlich wissen diese unorganisierten Anarchisten selber nicht, wieviel ihrer sind. Dass es viele Tausende sind, sehen wir, denn während drei Tagen ziehen sie ununterbrochen durch unteren Ort über die Dnjeprbrücke. Dreimal vierundzwanzig Stunden sind wir nicht aus den Kleidern gekommen, haben nicht geruht. Wir sind todmüde, aber sobald der Hund bellt, schnellen wir auf und lauschen auf nahende Schritte.
In der letzten Nacht waren sie viermal an unserem Hause. Mein Freund und seine Frau verstehen sich darauf, mit ihnen zu verhandeln. Zweimal kauften sie sich von einem nächtlichen Besuch los durch ein Paar Hosen. Zweimal konnten sie ihn nicht verhindern. Fürchterlich ist ihr Besuch am Tage, aber noch unheimlicher ist ein nächtlicher Überfall. Wir hatten kein Öl zur Beleuchtung, und so tappten sie polternd und fluchend durch die Zimmer. Sie zündeten Streichhölzer an und warfen Sie brennend in die Betten und Schränke. Wir gingen hinterher und achteten darauf, dass kein Feuer entband.
Es ist schwer für die Eltern, vor ihren Kindern aufrecht zu bleiben Die Kinder merken allmählich, dass die Eltern ebenso machtlos sind wie sie. Das kleine achtjährige Mädchen steht zwischen uns am Fenster, als wir auf Tritte lauschten. Ich fühle ihr Herz ängstlich klopfen, während wir mit größter Anspannung hinaussehen. ,,Da, Vater!“ ruft sie und klammert sich krampfhaft an meinen Freund. Eine Gestalt geht am Fenster vorbei. Atemlos verleben wir eine, lange bange Minute der Erwartung — und dann erfolgte der erste Schlag an der Tür. Obwohl wir ihn erwarteten, erschrecken wir dennoch so, dass wir zunächst nicht wagen, an die Tür zu gehen. Als aber die Schläge an Zahl und Stärke zunehmen, eilen wir, die Tür zu öffnen, um die Wut der Eindringlinge nicht zu steigern.
Frau Grete, die Gattin meines Freundes, hat gestern den ganzen Tag gekocht für die ungebetenen Gäste. Das Mehl ging aus, und so musste geknetet und gebacken, werden. Niemand’ will sich abweisen lassen. Sobald drei oder vier Mann ins Haus kommen, erteilen sie zuerst den Befehl, ihnen eine Mahlzeit zu bereiten, und wenn sie auch vor einer halben Stunde im Nachbarhause gegessenen haben. Sie sind gefräßig wie die Heuschrecken.
Frau U. an der Hauptstraße hat jetzt 50 Mann Einquartierung, die sie zu füttern hat. Daneben muss sie seit einigen Tagen täglich 5 Pud Mehl (ca. 80 kg.) verbacken. Frau Gretes Bruder musste während der zweiten Nacht mit seiner Familie fliehen, weil sein Sohn unter den Freiwilligen ist. Wir wissen nicht, wo sie sich aufhalten. Sicherheit gibt es nirgends, denn diese Anarchisten haben es auf alle deutschen Hofdörfer abgesehen. Das Haus der geflüchteten Familie ist der Willkür preisgegeben. Es geht dort wie im Bienenhause, nur mit dem Unterschied, dass nicht hinein-, sondern hinausgetragen wird. Da schleppt einer an einem Bündel Kleider, dort wirst jemand Stühle durchs Fenster auf die Straße. Ein dritter führte die Kuh davon. Die fetten Schweine wurden gestern auf dem Hofe geschlachtet. Als Frau Grete davon hörte, war sie verwegen genug, um hinzugehen um vom geschlachteten Schwein etwas zu retten. Wie ein armes Weib verkleidet, drängte sie sich an den Fleischtisch. ,,Her damit“, ruft sie, ,,hier gibt es etwas für die Armen!“ und schob einen Schinken in de s Sack. Darauf schickte sie einen 15jährigen Jungen hin, den sie lehrte, wie er sich zu benehmen hätte, und er holte herüber, soviel er tragen konnte. Der kleine Russenjunge ist uns sehr zugetan. Das Abenteuer reizte ihn, und noch etliche Male ging er hinüber, um auch Sachen für die geflüchtete Familie zu retten. Schwierig war es, das Gerettete vor den Späher-Augen der Räuber zu verbergen. Wie einen Sack Spreu schleppte der junge die Sachen in den Kuhstall, wo wir dann einen Sack mit Kleidern und etwas Wäsche in der Spreu vergruben.
Ich habe einige mir wertvolle Sachen am Abend unter den Dachsparren am Giebel versteckt. Weh mir, wenn sie gefunden werden! Wenn sie ein Versteck entdecken, benehmen sie sich, als ob wir ein Staatsverbrechen begangen hätten und verschonen fortan nichts. Mein Freund und ich sind besorgt um die Zukunft unterer Ansiedelung. Sie haben es auf untere Vernichtung abgesehen. Leute, die keine Ahnung von der Politik und Weltlage haben, hoffen auf Deutschlands Hilfe. Sie glauben, deutsche Truppen werden wiederkehren, um nochmals die Ukraine zu besetzen. Man ist mir gram, wenn ich diese Illusion zerstören möchte. Es nützt doch wahrhaftig nicht, seine Hoffnung auf Sand aufzubauen. Deutschland ist besiegt, und wenn wir auch nicht wissen, wie der Friede ausgefallen ist, so ist es immerhin undenkbar, dass man Deutschland die Ukraine zur Besetzung überlassen wird.
Aber weit schlimmere Dinge geschehen. Männer werden erschlagen, Frauen geschändet.
Gerüchte sind im Umlauf, dass die Zahl der Anhänger Machnos lawinenartig wächst. Man spricht von 100.000 Mann. Sicherlich wissen diese unorganisierten Anarchisten selber nicht, wieviel ihrer sind. Dass es viele Tausende sind, sehen wir, denn während drei Tagen ziehen sie ununterbrochen durch unteren Ort über die Dnjeprbrücke. Dreimal vierundzwanzig Stunden sind wir nicht aus den Kleidern gekommen, haben nicht geruht. Wir sind todmüde, aber sobald der Hund bellt, schnellen wir auf und lauschen auf nahende Schritte.
In der letzten Nacht waren sie viermal an unserem Hause. Mein Freund und seine Frau verstehen sich darauf, mit ihnen zu verhandeln. Zweimal kauften sie sich von einem nächtlichen Besuch los durch ein Paar Hosen. Zweimal konnten sie ihn nicht verhindern. Fürchterlich ist ihr Besuch am Tage, aber noch unheimlicher ist ein nächtlicher Überfall. Wir hatten kein Öl zur Beleuchtung, und so tappten sie polternd und fluchend durch die Zimmer. Sie zündeten Streichhölzer an und warfen Sie brennend in die Betten und Schränke. Wir gingen hinterher und achteten darauf, dass kein Feuer entband.
Es ist schwer für die Eltern, vor ihren Kindern aufrecht zu bleiben Die Kinder merken allmählich, dass die Eltern ebenso machtlos sind wie sie. Das kleine achtjährige Mädchen steht zwischen uns am Fenster, als wir auf Tritte lauschten. Ich fühle ihr Herz ängstlich klopfen, während wir mit größter Anspannung hinaussehen. ,,Da, Vater!“ ruft sie und klammert sich krampfhaft an meinen Freund. Eine Gestalt geht am Fenster vorbei. Atemlos verleben wir eine, lange bange Minute der Erwartung — und dann erfolgte der erste Schlag an der Tür. Obwohl wir ihn erwarteten, erschrecken wir dennoch so, dass wir zunächst nicht wagen, an die Tür zu gehen. Als aber die Schläge an Zahl und Stärke zunehmen, eilen wir, die Tür zu öffnen, um die Wut der Eindringlinge nicht zu steigern.
Frau Grete, die Gattin meines Freundes, hat gestern den ganzen Tag gekocht für die ungebetenen Gäste. Das Mehl ging aus, und so musste geknetet und gebacken, werden. Niemand’ will sich abweisen lassen. Sobald drei oder vier Mann ins Haus kommen, erteilen sie zuerst den Befehl, ihnen eine Mahlzeit zu bereiten, und wenn sie auch vor einer halben Stunde im Nachbarhause gegessenen haben. Sie sind gefräßig wie die Heuschrecken.
Frau U. an der Hauptstraße hat jetzt 50 Mann Einquartierung, die sie zu füttern hat. Daneben muss sie seit einigen Tagen täglich 5 Pud Mehl (ca. 80 kg.) verbacken. Frau Gretes Bruder musste während der zweiten Nacht mit seiner Familie fliehen, weil sein Sohn unter den Freiwilligen ist. Wir wissen nicht, wo sie sich aufhalten. Sicherheit gibt es nirgends, denn diese Anarchisten haben es auf alle deutschen Hofdörfer abgesehen. Das Haus der geflüchteten Familie ist der Willkür preisgegeben. Es geht dort wie im Bienenhause, nur mit dem Unterschied, dass nicht hinein-, sondern hinausgetragen wird. Da schleppt einer an einem Bündel Kleider, dort wirst jemand Stühle durchs Fenster auf die Straße. Ein dritter führte die Kuh davon. Die fetten Schweine wurden gestern auf dem Hofe geschlachtet. Als Frau Grete davon hörte, war sie verwegen genug, um hinzugehen um vom geschlachteten Schwein etwas zu retten. Wie ein armes Weib verkleidet, drängte sie sich an den Fleischtisch. ,,Her damit“, ruft sie, ,,hier gibt es etwas für die Armen!“ und schob einen Schinken in de s Sack. Darauf schickte sie einen 15jährigen Jungen hin, den sie lehrte, wie er sich zu benehmen hätte, und er holte herüber, soviel er tragen konnte. Der kleine Russenjunge ist uns sehr zugetan. Das Abenteuer reizte ihn, und noch etliche Male ging er hinüber, um auch Sachen für die geflüchtete Familie zu retten. Schwierig war es, das Gerettete vor den Späher-Augen der Räuber zu verbergen. Wie einen Sack Spreu schleppte der junge die Sachen in den Kuhstall, wo wir dann einen Sack mit Kleidern und etwas Wäsche in der Spreu vergruben.
Ich habe einige mir wertvolle Sachen am Abend unter den Dachsparren am Giebel versteckt. Weh mir, wenn sie gefunden werden! Wenn sie ein Versteck entdecken, benehmen sie sich, als ob wir ein Staatsverbrechen begangen hätten und verschonen fortan nichts. Mein Freund und ich sind besorgt um die Zukunft unterer Ansiedelung. Sie haben es auf untere Vernichtung abgesehen. Leute, die keine Ahnung von der Politik und Weltlage haben, hoffen auf Deutschlands Hilfe. Sie glauben, deutsche Truppen werden wiederkehren, um nochmals die Ukraine zu besetzen. Man ist mir gram, wenn ich diese Illusion zerstören möchte. Es nützt doch wahrhaftig nicht, seine Hoffnung auf Sand aufzubauen. Deutschland ist besiegt, und wenn wir auch nicht wissen, wie der Friede ausgefallen ist, so ist es immerhin undenkbar, dass man Deutschland die Ukraine zur Besetzung überlassen wird.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Ein Tagebuch aus dem Reiche des Totentanzes