Chortitza-Rosenthal, am 23. September 1919.

So! Ich bin wieder zurückgekehrt in unser Haus. Es ist doch ruhiger hier oben, als in den Straßen da unten, wo der Strom durchziehender Bewaffneter nicht aufhört.

Ich lebe. Kaum ist es zu glauben, dass man sich retten konnte. Ich schreibe im Finstern. Licht würde uns hier oben hinter den Birnbäumen verraten. Es tritt immerhin von einem Auftritt zum andern oft eine Pause von einer halben Stunde ein. Ich muss mir’s vom Herzen herunterschreiben, selbst wenn ich es später auch nicht alles entziffern könnte Mir ist beim Schreiben, als spräche ich mit jemand, der dies alles nicht erlebte, dessen Seele also frei ist, um mir einen Teil des allzu Schweren abzunehmen. Vielleicht stürmt die Fülle der Erlebnisse stärker auf mich ein als auf andere; ich muss mich losschreiben von der Last.


Wo war ich? Habe ich geträumt, was mir so schwer im Gemüte liegt? Ich entsinne mich nun ganz genau des Vorgangs. Die Töchter meines Kollegen kamen gestern zu mir und baten mich, in ihr Haus zu kommen. Der Vater war geflüchtet, weil man ihm am ersten nachstellen würde. Sie wüssten nicht, ob er entkommen oder vielleicht auch in ihre Hände gefallen war.

Es gab keine Überlegung für mich. Es war ein weiter Weg dorthin. Ich fand die Frau mit ihren drei erwachsenen Töchtern und dem 15jährigen Sohn in einem trostlosen Zustande. Sie waren besonders schwer getroffen. Ihr Haus war größer und schöner als die meisten Nachbarhäuser, ein zweistöckiges Einfamilienhaus im westeuropäischen Vorstadtstil. Es hatte die meisten Banditen, die nun zu Tausenden unseren Ort erfüllten, herbeigelockt. Sie liefen hier in Scharen ein und aus. — Ich gehe durch die Zimmer, die ich noch vor wenigen Tagen so gastlich und wohnlich sah. Die Kleider- und Wäscheschränke sind leer, die Schubladen der Kommoden aufgezogen. Auf dem Fußboden liegen die ausgeschütteten Bettfedern, die beim Windzug auffliegen, sich auf Haar und Kleider fetzen. Wüst ist alles. Einmal scheint es, als ob die letzten das Haus verlassen. Wir treten zusammen, und ungewollt fassen sich unsere Hände. Das stärkt unseren Mut.

Da erschallen barsche Rufe vom Hofe her. ,,Wo ist der Hauswirt!“ Ich trete vor. Es sind Reiter, die Einquartierung begehren. Der Hof füllt sich mit Reitern und Wagen. Es ist ein Schreien und Fluchen, ein Brechen an Zäunen, ein Rasseln mit Waffen, dass unsere Fassung ins Wanken kommt, die Nerven zittern. Die Familie umdrängt mich ratlos. Die Töchter werfen sich mir um den Hals. „Sie kommen“! „Helfen Sie uns“! „Es ist aus mit uns“! Von mir erwarten sie Hilfe, drum vermochte ich in diesem Augenblicke mehr, als ich je geglaubt hätte. Der Gedanke, dass ich helfen, dass ich einen Ausweg finden muss, reißt mich heraus aus dem Gefühl der Hilflosigkeit. Ich glaube selbst an mich. Ich kann meine Erregung zügeln, kann ihnen Trost zusprechen, ohne wirklich zu wissen, wie Hilfe gebracht werden kann, denn ein Wiederstand muss hier ebenso nutzlos sein, wie Don Quichotes Kampf gegen die Windmühlen.

Ich möchte mir gern den seelischen Vorgang erklären. Es war wohl das dumpfe Gefühl: dies ist der Höhepunkt unserer Leiden, weiter geht es nicht: mehr können wir seelisch nicht ertragen; jetzt muss es abnehmen; eine Entspannung muss eintreten — oder es gibt einen Ruck, und wir sind über die Grenze der Möglichkeit einer noch höheren Anspannung hinaus . . .

Aber ich habe in der Folge einsehen müssen, dass der Mensch mehr zu ertragen vermag, als er sich im normalen Zustand vorstellen kann. Bald strömen polternd und fluchend neue Banditen ins Haus. „Aha“, triumphieren sie, „hier sind wir im Haule eines Reichen. Wo ist der Hausherr?“ Mit erzwungener Ruhe erkläre ich: Hier wohnt ein Lehrer, ein Mann im Dienste des Volkes. Er ist in Schulangelegenheiten nach der Stadt gefahren und hat bisher nicht zurückkehren können. Ich bin Mitbewohner dieses Hauses“. Sie glauben es nicht, zerstreuen lieh aber beutegierig in alle Zimmer.

„Da ein Klavier! Wer spielt darauf? Hierher, ihr Dirnen, spielt uns vor!“ Die zweite Tochter des Hauses, ein tapferes Mädchen, scheint niemand zu fürchten. Wahrlich, sie sieht heldisch aus, als sie, ihren Blicken trotzend, ans Klavier tritt. Sie öffnet das erste zur Hand gelegene Notenbuch und spielt aus einer Bach-Arie, während staubbedeckt die wilden Gesellen rund herum Platz nehmen. Zurückgelehnt, die Beine vorgestreckt, hören sie mit verschränkten Armen einen Augenblick zu; dann aber springen sie auf mit dem sogenannten dreistöckigen Fluch von der genotzüchtigten Mutter Gottes. Einen frohen Tanz begehren sie, eine Polka Mazurka. Das Mädchen behauptet, keine Tanzmelodie spielen zu können. Sie tritt zurück vom Klavier in furchtbarer Erregung, denn die Töne der Musik greifen an die tiefsten Tiefen der Seele und drohen die seelische Spannung, mittels deren wir uns Beherrschung aufzwingen, zu lösen, was einer Verzweiflung gleichkommen muss.

Alle Zimmer sind angefüllt von Räubern. Die Gier nach Kostbarkeiten beherrscht sie restlos, und jeder will dem andern zuvorkommen. — Es wird Abend, und Licht begehren sie. Man sieht sie in Gruppen am Büffet, wo sie Gläser herauslangen und am Fußboden zerschmettern. Wenn ein Gegenstand silbern aussieht, verschwindet er in der Tasche oder dem Vorhemd. Andere suchen den Bücherschrank ab. Die Bücher werfen sie von den Brettern oder vergnügen sich damit, sie aus den Einbänden zu schleudern. Einer hämmert an der Nähmaschine; andere schneiden das Tuch von der Sofapolsterung. Immer wieder werden Schränke, Kommoden und Betten durchsucht.

In der Speisekammer und im Keller ist ein wüster Tumult. Sie fordern dort in dieser Jahreszeit den ganzen Wintervorrat an eingemachtem Obst. Sie kosten von allen Speisen und werfen, was sie nicht aufessen, zum Fenster hinaus.

Wir stehen dabei und denken: dieses oder jenes, was wir brauchen, bleibt vielleicht unbemerkt. Man hat bei der stets unischeren Zeit einige Verstecke, aber kein Raum, kein Eckchen bleibt verborgen. Schließlich geht uns das in diesem Augenblick nicht so hart an. Das Leben steht auf dem Spiel. Dann wird der Besitz wertlos. Wir wissen auch, dass durch Einspruch gar nichts zu retten ist.

Die hereinbrechende Dunkelheit verstärkt das drückende Gefühl. Es ist schrecklich und unheimlich zugleich. Wir treten hinaus vor die Haustür und hören Schreien, Rufen, Schüsse, Wehklagen. Selbst die Tiere werden unruhig. Kühe brüllen, Schweine grunzen. Wäre erst die schwarze Nacht vorbei! Da kommen zwei Reiter im gestreckten Galopp auf den Hof. Wüste Gesellen. Einer steigt ab und tritt auf mich zu in einer Weise, als begehre er meinen Kopf. Er durchsucht meine Taschen, behält Messer, Uhr, Zündhölzchen und forscht lange, wer ich sei. Er sieht, dass ich der Vater dieser Familie nicht sein kann und verlangt den Hausherrn zu sprechen. Er ist nicht hier. Aus den Augen des Inquisitors bricht wilde Wut. Er vermutet Vater und Söhne in den Reihen der Kadetten — seiner Gegner. Ich soll dafür büßen. Zuvor soll ich mit Namen nennen, wer als Freiwilliger bei General Denikin dient. Tatsächlich weiß ich keinen einzigen bei Namen, denn wenige Tage erst bin ich in diesem Orte. Man hält meine Auslagen für Ausflüchte und meinen Ausweis für gefälscht. Man droht mir den Tod an mit der zynischen Redensart, mich in das Generalquartier Duchonins, eines im Kriege verhassten und während der Revolution umgebrachten Generals, zu befördern. Diese Drohung wiederholen sie oft, damit ich die deutschen Freiwilligen ausgäbe. Ich kann niemand nennen; schließlich tagen sie mir, dass sie mich zu Väterchen Machno bringen werden, der nicht lange zu fackeln pflege.

Jetzt begreifen wir, wer diese unzähligen Horden anführt. Machno hatte schon als Verbündeter der Bolschewiki in diesem Ort fünf Wochen lang sein Quartier gehabt. Es war im Sommer gewesen, als hier die Front gegen Denikin gehalten wurde. Schon damals hatten sich seine Leute durch Rohheit ausgezeichnet. Bald nachher wurde er abtrünnig und schlug sich dann sowohl mit den Freiwilligen als auch mit Bolschewiki. Aber alle losen Elemente der Ukraine halten zu ihm. Machno! Wer kennt nicht diesen Namen, der jedenfalls noch durch Geschlechter hindurch als Schreckgestalt in der Erinnerung fortleben wird. Der Kriegs- und Revolutionszustand hat zu Tausenden Menschen auf die Bahn des Raubes und des Mordes gedrängt. Sie alle halten zu ihm wie zu ihrem Räuberhauptmann. Machno will alle Kapitalisten mit dem Schwerte ausrotten. Ihm sind die Bolschewiki, die wohl auch den Kapitalismus, aber das menschliche Leben schonen wollen — jedenfalls im Prinzip — zu zahm. Seine Straße ist mit Blut bespritzt.

Zu diesem Manne toll ich gebracht werden. Nach einiger Zeit kommen sieben Männer ins Haus um uns mit Drohungen zu quälen, denn zu rauben gibt es nun kaum etwas mehr. Ich begreife sehr bald, dass diese Wüstlinge mich aus dem Haute entfernen wollen, um die Frau und ihre drei erwachsenen Töchter allein im Hause zu haben. Nachdem sie mich lange mit Pistolen bedroht haben, geben sie mir Gelegenheit zu entfliehen. Allein wie hätte ich fliehen können, wenn die Ehre dieser Frauen auf dem Spiel stand, die sich ausdrücklich unter meinen Schutz gestellt haben! Ich beschloss bei mir, nicht zu weichen, und wenn es das Leben kosten sollte. Ich zwinge mich zur Ruhe, und verlasse mich auf das Mittel, das mich vor einem Jahre rettete, als ich zum Erschießen verurteilt war. Ich habe damals erfahren, dass ich mit höchstem Geistesaufwand die Mordwaffen unschädlich machen konnte. Ich gehe also mit der Waffe der geistigen Konzentration bewusst zum Angriff vor. Ich zwinge ihnen suggestiv den Gedanken auf: Ihr tötet mich nicht! Den Gedanken, dass es für sie unmöglich sei, mich zu töten, steigere ich bis zur höchsten Potenz. Ich sehe, wie die Mordlust nachlässt und werde umso standhafter. Nun merke ich ganz deutlich, wie sie zahmer werden, wie sich menschliche Gefühle in ihnen zu regen beginnen. Und da sagt schon einer, auf sein Gewehr sich lehnend, leise hinter meinem Rücken: „Ihnen geschieht nichts“ Auch die anderen haben sich beruhigt bis auf einen. Er hält den Hahn angezogen und lässt mich nicht aus den Augen. Ich sage kaum ein Wort, aber fest und fester spanne ich den Gedanken: Du tust mir nichts! Die anderen beginnen, auf den Mordlustigen einzureden, und am Ende beschließt auch er, von mir abzustehen. Beim Verlassen des Hauses fragt er, ob ich um 4 Uhr morgens noch da sein würde. Ich versprach es und ich hielt Wort. Aber jene kamen nicht. Die Nacht war schauerlich! Der Schlaf floh uns, wiewohl wir alle schon zwei Tage und eine Nacht in Aufregung gelebt und kaum etwas an Essen zu uns genommen hatten. Wir vergessen es geradezu.

Wir erstaunten, als eine halbe Stunde verging, ohne dass neue Banditen kamen. Wir verkrochen uns alle in die Kammer neben der Küche und saßen oder lagen vor Ermattung und lauschten. Dass wir die Nacht allein sein sollten, glaubten wir nicht. Es war Mitternacht und das leiseste Geräusch zu hören. Die erregten Frauen vernahmen Schritte und Pochen, auch wenn es nicht der Fall war.

Die Räuber haben sich zur Ruhe begeben. Sie haben es nötig, auf Raub auszugehen, wenn es finster ist.

Wir finden ein paar Decken, breiten sie auf dem Fußboden aus und legen uns alle nebeneinander darauf. Gegen Morgen wird es kühl, die Nervenspannung lässt nach, wir frösteln, und machtvoll kommt die Müdigkeit. Es wird wieder hell, und niemand besucht uns. Wir begreifen die Stille nicht. Aber gegen 8 Uhr kommen wieder einzelne Trupps, die zu essen begehren. Sie müssen einsehen, dass uns für sie nichts mehr geblieben ist. Statt Mitleid erregt dass nur Ärger und Wut gegen uns. Um 10 Uhr ertönen schrille Pfiffe, und bald sehen wir durchs Fenster, dass sie abziehen wollen. Die Reiter sammeln sich in Trupps, und ein eigenartiges Bild bietet sich uns. Die Droschken sind mit Raub vollgepackt. Die Leute haben Kleider an, die noch am Tage vorher in unseren Schränken gehangen haben. Große farbige Tischdecken liegen unter den Sätteln, zu beiden Seiten hängen oft dicke Federbetten herab. Vereinzelt sprengen sie noch auf den Hof zurück, um möglicherweise noch einen goldenen Ehering oder eine Uhr zu rauben, was jedoch meist schon vorher alles abgenommen ist.

Mancher hat eine Hand voll Goldringe in der Tasche. Ein Gesicht hat sich mir angenehm in mein Gedächtnis geprägt. Verlegen lächelnd kam ein junger, intelligent aussehender Mensch heute morgen an unsere Verandatür und bat um ein Stück Brot. Er bat. Dass jemand bat und nicht verlangte, war uns befremdlich. Ich sah ihm ins Gesicht. Das war kein verkommener Mensch. Drum ging ich auf ihn zu und fragte, wer sie eigentlich seien, denn gestern forschte ich vergebens danach. Sie waren Anhänger Machnos, aber er schämte sich, auch darunter zu sein. Die Not hat ihnen diesen Menschen zugeführt. Er hat vor der Entscheidung gestanden, sich von ihnen umbringen zu lassen oder sich anzuschließen. Er hat nie gedacht, dass er einmal Anarchist werden könnte. Ich mache mir Gedanken darüber, was die Umstände aus einem Menschen machen können. Ich erwäge, ob es nicht auch in Westeuropa möglich wäre, dass viele brav und, wie man sagt, gut sind, solange die gesellschaftliche Ordnung als unumstößlich gilt, die aber haltlos mitgerissen werden, sobald die Ordnung durchbrochen ist.

Die Töchter des Hauses treten an mich heran und wir [teilen an uns die bange Frage, was der heutige Tag bringen würde. Unsere Blicke suchen den Weg ab, der von Westen kommend, in unser Tal führt. Den Weg waren gestern unsere Peiniger gekommen. Er war leer. Wir hoffen, dass nun die Gefahr vorüber ist. Meine Schützlinge atmen auf. Wir begrüßen den sonnigen Sonntag wie Neugeborene. Freilich lag der Schreck noch in den Gliedern. Auf der Straße ertönen noch ab und zu Rufe, Pfiffe und Schübe. Es waren die Letzten, die Zurückgebliebenen. So glaubten wir.

Eine halbe Stunde fühlen wir uns, uns selber zurückgegeben. — Plötzlich aber erscholl des Nachbars Stimme an unserm Fenster: „Sie kommen schon wieder! Diele Nacht hat es fünf Tote gegeben“, fügte er hinzu und rennt in großen Sprüngen wieder auf seinen Hof.

„Fünf Tote“? geht es von Mund zu Mund. Wir spähen auf den Weg. Wie ein schwarzes Ungetüm drängt es zu uns herab ins Tal. Wir sehen es mit wachsendem Grauen. Lange stehen wir — es deucht uns lange zu fein — und sehen unverwandt auf den Zug, ob er wohl ein Ende nimmt. Aber selbst nach einigen Stunden ist der Weg immer noch voll Reiter und Fuhrwerke. So ist das Maß unserer Leiden noch nicht voll? Es währte nicht lange, so waren alle Straßen, alle Höfe, alle Häuser von neuem angefüllt von diesen Gesellen. Wir haben wieder Besuch im Hause. Aber heute konnte die Beutegier nicht mehr gestillt werden und das bringt sie in Wut, die wir entgelten Sollen. Unsere Situation ist heute viel bedrohter als gestern. Um 10 Uhr etwa kamen drei Männer, deren finstere Mienen uns besonders unheimlich erschienen. Die Abwesenheit des Hausherrn und das stattliche Aussehen des Hauses steigerte ihre Wut. Aber merkwürdiger Weise fluchten und schimpften sie nicht so wie die meisten es vorher getan hatten. Das war ein Ventil für ihre innere Erregung gewesen, und darum schienen mir die lauten Gesellen nicht so gefährlich, wie diese verbissenen Gesichter. Sie platzten nur ein paarmal heraus. „Das ist hier so richtig das Brutnest eines Bourgeois“ und „Arm nennen sich diese Leute“. Nun wurden sie des fünfzehnjährigen Sohnes gewahr und befahlen ihm, in das anstoßende Badezimmer zu gehen. Als eine Schwester den kleinen Dolch erblickte, den der finster blickende Mensch bereithielt, was wir anderen bisher übersehen hatten, erriet sie die Gefahr und trat schützend vor den Bruder. Da erhob er seine Hand und zückte den Dolch gegen sie. Nun begriff auch ich die drohende Gefahr und redete auf den Mordbereiten ein. Es gelang mir nur mit großer Mühe, ihn von seinem Mordplan abzubringen mit denselben Mittel wie gestern: mit der Suggestion, d. h mit dem Entgegensetzen meines Willens, der seinen Willen von seinem Entschluss entwaffnete. Wie vertriebene Beelzebuben wichen die finsteren Gesellen aus dem Haus. Es war bereits ihr zweiter Besuch, und sie drohten mit einer Wiederkehr. Ich konnte nun nicht mehr daran glauben, dass ich sie noch einmal würde hindern können, denn ich war zu sehr abgemattet. Die seelische Spannung war so groß gewesen, dass ich mich aus der Ermattung nicht nochmals zur früheren Stärke der Willenskraft hätte aufraffen können.

Der Junge war von der unmittelbaren Todesgefahr so von der Angst gepackt worden, dass wir ihn kaum beruhigen konnten. Wir mussten an Flucht denken und das Haus preisgeben. Was nützte unsere Anwesenheit? Wir konnten doch nichts retten. So beschlossen wir, im Schutze der Gärten zu flüchten. Jeder raffte eilig ein Bündel zusammen und dann stahlen wir uns davon. Kaum waren wir im Schutze der ersten Bäume, da kamen dieselben Gesellen abermals auf den Hof. Wir sahen sie und fürchteten erkannt zu werden. Wir fühlten, dass uns der Tod auf den Fersen war. Ein paarmal glaubten wir uns verfolgt. Atemlos verharrten wir dann lange Minuten hinter Baumstämmen oder Büschen, bis wir überzeugt waren, dass die Bewaffneten, die uns gesehen hatten, in irgendeinem Hofe verschwunden waren. Plötzlich aber hörten wir deutlich in der Nähe ein Geräusch im Gebüsch. Mit fast erstarrtem Blut bleiben wir stehen und sehen uns an: mir scheint es jetzt in der Erinnerung, als hätte in den Augen der Frauen der Abschied vom Leben gelegen. Die bange Erwartung ließ die Minute zu einer Ewigkeit werden. So relativ ist auch das Zeitmaß. Wir haben nur eine relative Vorstellung vom Absoluten.

Statt eines Schusses aber oder eines triumphierenden Rufes hörten wir auf einmal eine Flüsterstimme aus dem Busche, die zu uns in deutscher Sprache sprach: „Verlasst auch Ihr euer Haus“? Meine Schützlinge erkannten die Stimme. Es war ein Nachbar aus unserem Ort.

„Ich bin schon drei Stunden in diesem Versteck“, erzählte er leise. „Die Menschen, die bei mir übernachteten, und denen wir zu essen gaben, was wir hatten, die in unseren Betten schliefen, sie wollten mich heute morgen erschießen. Der Schuss ging fehl Ich floh in die Gärten. Mich quält nun der Gedanke, was aus meiner Familie geworden ist. Haben Sie meine Frau und meine Kinder gesehen?“ fragte er angstvoll.

Nein, wir hatten niemand gesehen.

„Meine Stiefel“, erzählte er, auf seine bloßen Füße deutend, „musste ich ausziehen und ihnen geben. Ich sollte mein vergrabenes Gold hergeben. Wir Deutschen sollen alles haben: Gold, Geld, Kleider — alles unbegrenzt viel“, fügte er bitter hinzu.

Er versuchte, sich aufzurichten: er stöhnte. Sie haben seinen Rücken mit Knuten zerschunden, damit er versteckte Sachen hervorhole. Ich wandte mich ab, um meine Rührung zu verbergen. Was hat man vor mit uns? Wo ist Rettung? Ich sehe keine! Wir sind verloren!

Wie Diebe müssen wir uns weiter fortstehlen. Lange kauern wir auf einer Tenne hinter einem Strohhaufen, bis der Hof für einen Augenblick frei wird. Das Wohnhaus hindert den Ausblick nach der Straße. Im Hause steht eine Witwe mit zwei halb erwachsenen Kindern. Die Tochter besucht mein Seminar, und ich erkenne sie wieder, aber wie verändert ist sie! Auf ihren jungen Augen liegt ein namenloses Leid. Blass und verstört sehen auch die anderen aus. Nie erlischt der Stempel des Leides aus diesen Gesichtern und wenn sie alt werden sollten. Oder sind wir allesamt zu frühem Tode bestimmt?

Unser Ziel ist das Lehrerseminar, wo ein Lehrer wohnt, der ein naher Verwandter meiner Schützlinge ist. Wir müssen über die Straße gehen. Dort aber sind die Anarchisten. Wir mühen es wagen. Niemand spricht uns an. Wir sehen wohl wirklich nicht aus wie Bourgeois-Kapitalisten in unseren an Stachelzäunen zerrissenen Kleidern.

Im Seminar kommen wir uns geborgen vor, denn nach dem entlegenen leeren Schulhaus lockt es niemand von den wilden Menschen. In einem Kellerraum, der ein mattes undurchsichtiges Fensterglas hat, wollen meine Schützlinge bleiben. Schmale Bänke stehen darin. Darauf wollen sie schlafen. Mir bleibt nichts mehr für sie zu tun übrig, als mich von Zeit zu Zeit von meiner Wohnung hierher zu schleichen und Ihnen Mut zuzusprechen.

Ich höre die Mitternachtsstunde schlagen. Zwei Stunden haben wir Ruhe gehabt. Ich will nun vergehen, auf meinem Bette, wenn auch in Kleidung, auszuruhen.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Ein Tagebuch aus dem Reiche des Totentanzes