Chortitza-Rosenthal, am 21. September 1919.

Sie sind da!

Wer sie sind und für welche politische Losung sie kämpfen — das weiß niemand von uns. Alles was wir sehen, ist brutaler Wahnsinn, ist Raub, Mord — einen Deutschen, namens Dick, sah ich schon erschlagen liegen jenseits des Baches — ist Schrecken in steigender Potenz . . . Ich höre sie wieder vor der Tür — —


Abends. Zerknüllt hole ich meine Notizblätter hervor aus dem Versteck. Wie sieht es in meinem Zimmer aus! Die Schranktüren stehen offen, die Schiebladen des Schreibtisches liegen auf dem Fußboden. Der Inhalt liegt zerstreut umher, soweit er nicht mitgenommen wurde.

So sieht es nun im ganzen Haule aus! Wir haben kaum noch Lust, die gehörte Ordnung wieder herzustellen.

Wir sind alle sehr aufgeregt. Mein Freund, in dessen Haus ich wohne, zwingt sich zur Ruhe. Auch seine Frau, ein tapferes Weib, beherrscht sich, wiewohl sie den Kleiderraub und den Verlust der Wäsche ihres Mannes lehr hart empfindet; sie weiß, dass dies alles nicht ersetzt werden kann.

Aber, es steht noch Unersetzlicheres auf dem Spiel. Wir haben genugsam erkannt, wie lose die Kugel in den Mordwaffen dieser Eindringlinge sitzt. Wir fühlen und wissen, dass diesen Menschen unser Leben nicht wertvoller erscheint als einem Sonntagsjäger das Leben eines Hasen. Es gibt keine Schonzeit für uns, wie sie in einem geordneten Staate für Menschen in den Pausen von einem Kriege bis zum andern doch besteht. Wen kümmert es, wenn wir unser Leben einbüßen! Die älteste Tochter meines Freundes, ein phantasiebegabtes deutsches Mädchen, empfindet anscheinend in aller Gefahr etwas von Abenteuerlust, die ihren 14 Jahren zugutegehalten werden muss. Die kleine Achtjährige ist infolge vieler Krankheiten ernsterer Natur. Oft blickt sie mit tiefen blauen Augen den Eltern ins Gesicht: sie studiert ihre Mienen und weiß offenbar nicht recht, ob sie wirklich ganz geborgen ist bei Vater und Mutter. Feinsinnig spürt sie das Zittern der seelischen Atmosphäre im Hause, nervös spielen die Fingerspitzen mit den Enden ihrer langen, dicken blonden Zöpfe. Großmutter begreift die ganze Tragweite unserer Situation noch nicht. Ungehalten ist sie über den frechen Besuch. Ein Muster der ordnungsliebenden deutschen Hausfrau muss sie dulden, dass ihre Kommode, wo jedes Schächtelchen seit Jahr und Tag seinen bestimmten Platz hat, durchsucht wird. Sie muss zusehen, wie die Eindringlinge, vorgeblich nach Waffen suchend, in den Schubladen kramen. ,,Halt“ ruft sie plötzlich dazwischen. „Ich will Ihnen selber alle Schachteln öffnen und jedes Ding zeigen.“ Sie sieht, dass alles durcheinandergebracht wird, Sie ist alt. Schon müde blicken die Augen. Sie erkennt die wilden Gesichter nicht. Sie hätte jenen Ruf sonst nicht gewagt. Sie versteht zudem kein Wort russisch und begreift nicht, wie drohend sie fluchen und schimpfen. Sie greift steuernd ein bei dem Wühlen unberufener Hände. O wie dieser Widerspruch die verwegenen Räuber reizt! Einer fasst seine Knotenpeitsche und schickt sich an, die Alte zu schlagen. Da bitten Sohn und Tochter für die Mutter und reden dann auf diese ein, das Unabwendbare geschehen zu lassen. Da sagt sie kurz in ihrem Plattdeutsch: he wöat nich schlone. (Er wird nicht zuschlagen). Sie hat manchen Tand im Laufe des Jahres als Andenken für sich zurückgelegt. Sie will nicht leiden, dass ihrem Alter keine Achtung gezollt wird, dass vieles in die Taschen der Räuber wandert, vieles auf den Fußboden geschleudert und zerschmettert wird.

Sie gebietet Einhalt. Das ist zu viel!

„Tritt zurück, alte Hexe!“ ruft ein Bandit und schwingt das Gewehr von der Schulter. Er richtet den Lauf auf die Großmutter. Da tritt mein Freund vor und lenkt auf diese Weise den Mordbuben auf sich. Er bittet für seine Schwiegermutter. Fluchend stößt jener die Frau mit dem Gewehrlauf nieder; sie stürzt zurück und sinkt wie geistesabwesend hintenüber.

Wie bei heiterem Wetter eine Heuschreckenwolke auf einen Getreideacker verheerend niederfällt und in wenigen Stunden die Ernte mit Halm und Ähre vernichtet, — so sind wir mitten im vermeintlichen Frieden überfallen worden.

Ich kann mir kaum Rechenschaft darüber geben, was heute war. Das Erlebnis ist so groß, dass es mir vorkommt, als sei der Tag endlos. So weit zurück liegt alles, was frühmorgens geschah.

War es denn heute, als mein Freund mit mir das Phänomen der Steppe, den Sonnenaufgang, begeistert schaute? Und war es heute, als wir im Seminar in außergewöhnlich gehobener Stimmung waren und ich Gedichte vortrug? — Ja, es war heute!

Am Nachmittag ging ich dann hinaus, um die hundertjährige Eiche, einen außergewöhnlich hohen Baum, zu besehen. Dort war es, als wir plötzlich einen Kanonenschuss hörten. Beim zweiten horchten wir erregt auf, und begaben uns beim dritten auf den Heimweg. Es ahnte uns nichts Gutes. An der ersten Wegkreuzung stoßen wir auf Reiter und Droschken mit Dreigespann, die alle im wilden Tempo unserem Orte zustreben. Eine endlos lange Staubwolke zog hinter ihnen her, dass wir das Ende des Zuges nicht absehen können.

Bald lösen sich zwei Reiter von der ersten Gruppe und sprengen uns entgegen. Wir verharren auf dem Fleck reglos, schreckgebannt. Bald tänzeln zwei Pferde vor uns. Roh werden sie geführt. Die Männer auf ihrem Rücken fassen die Zügel kurz, dass die armen Tiere das Maul auftun und ihre geschwollene Zunge zeigen. Jeder Reiter hat trotz der warmen Witterung eine große langhaarige Pelzmütze auf, die keck nach einer Seite neigt, während auf der anderen lange Locken drohend auf und niederschweben. Das macht das staubbedeckte Gesicht gefährlich verwegen. Aus den Augen bricht wilde Zügellosigkeit. Die grellen Farben der Kleider verschärfen die Wirkung der kecken Haltung und den wilden Ausdruck des Gesichts. Waffen haben sie: Über der Schulter hängt das Gewehr, an der linken Seite baumelt der Säbel, die Pistolen stecken im Gurt. Während die linke die Zügel fasst, schwingt die Rechte eine dreistriemige Knotenknute. Sie saust während unseres Verhörs nieder auf die Rippen und Flanken der Tiere, dass sie keuchend stöhnen. Das gibt den Reitern Anlass zu fluchen, wie man es nur in Russland hören kann.

Mit vieler Mühe überzeugen wir sie davon, dass wir Lehrer sind. Lehrer zu sein, ist offenbar nach ihren Begriffen nicht das größte Übel. Der Bauernstand der deutschen Kolonisten ist jedenfalls strafbarer als der Lehrerstand.

Mit einer Drohung sprengen sie davon. Wir suchen versteckte Wege, die uns durch Gärten und Zäune endlich nach Hause bringen. Der ganze Ort ist in Aufregung. Es liegt eine Angst und ein unheimlich drohendes Verhängnis in der Luft. Ein Nachbar läuft zum andern, und jeder glaubt am meisten gelitten zu haben. — Wir sind tatsächlich mehr verschont geblieben, als die Häuser, die an der Hauptstraße stehen. Aber wie lange? Der Ort füllt sich immer mehr mit diesen Horden. Die Höfe sind voll Wagen und Reitern. Sie besitzen, was ihnen gefällt. Auch unser Leben gehört ihnen. Ob sie lange bleiben? Man sieht von unserem Hause aus einen endlos langen Zug, wie er sich aus dem Ort hinausbewegt nach dem Dorf, das unmittelbar am Djnepr liegt. Sie wollen wohl dort über die große Djneprbrücke. Ich höre Stimmen im Hausflur. Mein Freund spricht. Eindringlinge fluchen. Er weicht ihrer rohen Gewalt. Brutale Gesellen, keiner Vernunft zugänglich! Sie kommen! Weg mit dem Heft!
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Ein Tagebuch aus dem Reiche des Totentanzes