Chortitza-Rosenthal, am 20. September 1919.

Ich war auf der Insel. Die Fähre ist nur eine halbe Stunde entfernt von unserm Haus auf der Höhe des Abhangs hinterm Birnbaum. Eine Bresche in dem hohen Felsufer ist der Ankerplatz für das Fährboot.

Lautlos still war es, als mich der schweigsame Fährmann hinüberruderte. Es war fast die Stimmung von Böcklins ,,Toteninsel“. Ich stieg am Inselufer aus und schritt schwer durch den tiefen Sand dem Föhrenwalde zu. Nachdem ich den Fahrweg verlassen hatte, ging ich auf festem Boden. Plötzlich stand ich vor alten Befestigungswällen. Ich erinnerte mich an die Sjetsch der Saporoger, die vor zwei Jahrhunderten auf dieser Insel ihren Sammelplatz hatten Deshalb galt ja auch die Insel als historisch. Gogol hat in einer späteren Zeit die Erinnerung an die Sjetsch in das rosige Licht der Poesie getaucht. Seither erscheinen die Saporoger in der Schilderung der Sjetsch als Nationalhelden. Der Geschichtsforscher weiß jedoch, dass jene Helden gerade solche Insurgenten gewesen sind wie die Bandenführer unserer Tage. Webt nicht um Machno schon jetzt ein Sagenkreis im Volke, wie um Taras Bulba, dem Saporoger . . ?


Es war ein heißer Herbsttag gestern, und die Föhren entwickelten einen starken, harzigen Duft, der meine Sinne wohltuend berauschte. Es bedurfte eines entschlossenen Aufrufs an die Willenskraft, um mich selbst zum Verlassen des Waldes zu bringen. Das war der Bann des Waldes. Wieder zieht es mich heute dahin. Wonnesam ruht es sich auf dem trockenen Grund unter den Bäumen. Der Allnatur verwebt fühle ich mich. Die baumlose Steppe gefällt mir nicht mehr. Hier habe ich inmitten der Steppe Wald, Strom und Felsgestade. Im klaren Wasser bade ich. Ich komme in innige Fühlung und Harmonie mit der Natur.

Das söhnt mich aus und heilt das Weh, das ich über unsere Zeit empfinde. Das gibt mir auch Freude zur Arbeit. Und wenn ich in solcher Verfassung vor meiner Klasse stehe, dann fliegen mir die Herzen der Seminaristen zu wie Tauben, denen man Körner streut.

Ich werde genügsam und beschränke mein Tun auf einen engen Kreis. Es ist nicht mehr zu überleben, wie weit ins Große die Folgen der russischen Revolution sich erstrecken. Wir sind hier in der Steppe und können von hier aus die Welt nicht organisieren, wenn wir auch ahnen, dass die Menschheit ein großes Ganzes sein sollte und sein muss.

Um uns ist Ruhe. Aber wer vermag zu sagen, ob es die Ruhe vor einem neuen Sturm ist oder den Anfang einer dauernden Entwicklungsrichtung bedeutet? Ich mag nicht prophezeien, und doch spreche ich es manchmal im Hinblick auf die Zustände um uns her aus, dass das Horoskop für unsere nächste Zukunft auf Schwingungen, also auf schwerwiegende Ereignisse deute. Die meisten deutschen Kolonisten begrüßen die Regierung des Generals Denikin, übersehen aber den wachsenden Unmut der russischen Bauern. Sicherlich ist Denikin weniger abhängig von dem Wohlwollen einiger deutscher Kolonisten als von der Haltung der russischen Dorfbewohner.

So gerne möchte ich mich um alles andere nicht kümmern, nur meine positive Arbeit tun. Aber ist dies Nicht-erkennen-wollen vielleicht auch vergleichbar mit dem Verhalten vom Vogel Strauß, wenn er bei Gefahr den Kopf in den Sand steckt? Aber man sieht ja nur, dass alles schiefgeht, ohne das mindeste daran ändern zu können, denn Vernunft predigt man in unserm Lande zurzeit umsonst. Erst muss die Ernüchterung kommen.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Ein Tagebuch aus dem Reiche des Totentanzes