Chortitza-Rosenthal, am 20. Oktober 1919.

Unsere Telefonistenabteilung, 8 Mann, ist nun schon seit drei Wochen unausgesetzt bei uns. Sie sind anständiger als andere, soweit man von diesen Menschen von Anstand reden kann. Auch Nichtbauern sind unter ihnen, sogar ein paar verbummelte Studenten.

Nach und nach werden sie in unserem Hause zahm. Wir haben bisher ihre Gelüste, vor allem ihre Fressgier, stillen können, und nun ziehen sie ihre Raubtierkrallen ein. Unser Hof kann sie nicht reizen, denn es ist kein Bauernhof mit Viehställen und Getreidespeichern. Sie leben so in den Tag hinein ohne Bekümmernis. Wenn sie gut aßen, wir ihnen die Zimmer gut heizten und der Student auf den Tasten des Klaviers hämmert, dann sind sie sogar aufgelegt, mit den Kindern zu scherzen. Ab und zu überwinden wir uns und setzen uns zu ihnen, und wir sind froh, wenn sie menschlich zu uns sind, wenn wir entdecken, dass sie wohl verkommene, aber doch Menschen mit menschlichen Regungen sind. Wo die Kolonisten sich ihnen mürrisch oder verschlossen zeigen, bleiben sie die Raubtiere, die sie von Anfang waren. Freilich haben wir Glück gehabt; denn unsere Telefonisten haben Schulbildung, und das lässt sie vernünftiger erscheinen. Als gestern ein bewaffneter Kosak in einem geraubten wundervollen Pelz ins Haus kam und konservierten Tomatensaft, Gurken, Schinken und Eier verlangte, und als Frau Grete in Gefahr geriet, weil sie ihn nicht befriedigen konnte, da waren es unsere Telefonisten, die ihn vertrieben.


Den einen unter ihnen nennen sie Iwan. Wir nennen ihn Hans, wenn wir von ihm sprechen. Hans ist merkwürdig schlecht gekleidet, ganz im Gegenteil zu den anderen. Ich fragte ihn einmal, worin das seine Ursache habe. Er möge nicht rauben, gab er zurück. Wie, dachte ich, ist er wirklich der einzige weiße Rabe unter ihnen? Ich fand es bestätigt. Eines Tages sitze ich im Nebenzimmer und höre, wie sich über den Hans lustig machen. Wie dumm, in zerrissenen Stiefeln und Kleidern zu gehen, sich nicht einmal einen warmen Mantel zu verschaffen. Er lacht und macht Späße. Seither hat mich der Hans ganz besonders interessiert.

Er sei kein Anarchist, sagte er mir unter vier Augen. Er sei überzeugter Bolschewik. Den Anarchisten habe er sich nur deshalb angeschlossen, weil er in einem Gebiete wohne, wo die Weißen zur Herrschaft gelangt sind, die ihn mobilisieren wollten. Sobald die Anarchisten den Bolschewiki gegenüberständen, wolle er übergehen.

Nein, er sei kein Anarchist, wehrte er entschieden ab. — Hans ist gewiss nicht dumm, aber indolent. Er versucht nicht, seine bessere Erkenntnis unter den Kameraden zur Geltung zu bringen. Innig spricht er von seiner verlassenen Mutter und der Schwester, die Lehrerin ist. Es steckt doch noch Kultur in diesem Menschen. Humor kommt dazu. Es ist nicht satirischer Spott, sondern gutmütiger Humor, den dieser Mensch besitzt. Man muss ihn gernhaben. Selbst wir, die wir es beinahe verlernen, können uns manchmal des Lachens nicht erwehren.

Iwan ist grenzenlos nachlässig: die Läuse fressen ihn fast auf; er kratzt sich unaufhörlich, aber es fällt ihm nicht ein, sich zu reinigen. Die Parasiten haben ihn fast blutleer gesogen, aber er lässt sie gewähren. Er lacht nur, wenn wir ihn ermahnen, sich von diesem Ungeziefer zu befreien. Er ist den Läusen nicht bös. Er sagte neulich im Scherz: „Ich würde die Kapitalisten auch nicht töten, wiewohl sie schlimmer sind als die Läuse. Ich möchte ganz gern zu Grunde gehen, wenn nur die Idee des Kommunismus obliegt.“ Ein ganz eigenartiger Bolschewik. So sind die Kommunisten in Russland sonst nicht; sie wollen herrschen und nicht Märtyrer sein. Dem Hans muss man es glauben, dass er ehrlich ist: denn es ist nicht die Spur Eigennutz an ihm. Wer will einen Stein auf diesen Menschen werfen?

So wie Hans sind die anderen nicht! aber es ist doch eine Gruppe, die sich von den übrigen gesondert hält. Auch Fedja behauptet, die Handlungsweise der Machno-Anarchisten zu verabscheuen. Ungern sei er mitgezogen, denn er habe seine junge Frau zurückgelassen, um die er nun in Sorge sei, weil er schon seit Monaten nichts mehr von ihr gehört habe. Er stammt aus Gulja Polje, dem großen Marktflecken, wo Machno zu Hause ist, und der nun im Volksmunde Machnograe heißt, nach der Analogie von „Petrograd“. Machno begann hier in seiner Zentrale alle, die nicht zu ihm hielten, auszurotten. Wer also sein Leben und sein Eigentum retten wollte, ließ sich von Machno einstellen.

Machno ist ungemein listig und tatkräftig. Er hat 12 Jahre in Sibirien Strafarbeit getan, so wird erzählt, und da ist sein Rachebedürfnis entbanden. Seine Blutgier muss grenzenlos sein. Er zögert nie. Als er mit Grigorjew, einem ebenfalls populären Abenteurer in der Ukraine, verhandelte, schoss er einen Rivalen einfach nieder. Das war für ihn die einfachste Lösung. Ein Menschenleben gilt ihm gar nichts. Der Kurs des Menschenlebens ist zurzeit in der Ukraine noch niedriger als in Groß-Russland. Eine ganz eigenartige Reaktion ist es, das dieselben Russen — die Ukrainer sind ja offengestanden nicht nur Slawen, wie die Großrussen, sondern stehen diesen so nahe, dass man sie von jenen dem Wesen nach nicht unterscheidet — die sonst so gern und so viel unterhandelten, jetzt zum Handeln übergegangen sind. Die Machno-Anarchisten jedenfalls verhandeln nie: ihre stereotype Wendung ist „keine Unterredungen“ (nje rasgowariwaty!) Aber vielleicht dürfte man diese Beobachtung nicht verallgemeinern. Nein, denn die weniger verdorbenen Anarchisten können, wenn sie satt und warm sind, stundenlang philosophieren. Das tut der Hans, das tut auch Fedja. Diese beiden werden ganz zahm. Sie haben sich sogar Lektüre erbeten von meinem Freunde und nun lesen sie tagelang in den Werken Turgenews und Lermontoffs.

Der Dicke — so nennen wir einen Bauern, der zur Telefon-Abteilung gehört — hat Freude an einem gut gepflegten Äußeren. Er trägt sehr gute und stets blanke Stiefel. Sein Anzug ist aus beneidenswert gutem englischen Stoff, den er im Kampfe mit den Weißen, die von den Engländern unterstützt werden, erbeutet hat. Er hat durch den langen Kriegsdienst das plumpbäuerliche Aussehen fast verloren. Meine Freunde vertrauen ihm mehr als den anderen; aber da er sich gänzlich prinzipienlos zur Machno-Bande hält, traue ich ihm nicht sehr. Er behauptet allerdings, dass sein Vater einen großen Bauernhof besitzt und dass er sein eigenes Pferd mitgebracht hat. Es ist nicht ausgeschlossen. Es sollen viele reiche Bauern dabei sein. Sie bleiben eine Zeit lang bei der Bande, und wenn sie genug geraubt haben, kehren sie mit den geraubten Pferden und Kleidern nach Hause zurück. Andere wollen sich durch den Anschluss an Machno retten. Gestern war ein furchtbar versoffener Kerl mit einer furchtbar versoffenen Trinkerstimme hier. Es soll der Grubenbesitzer K. aus dem Kreis Taganrog sein. — Es gibt regelrechte Fanatiker unter ihnen, die aus Hass gegen die dem ganzen Bauernvolke verhassten Weißen erbarmungslos wüten. Da wir — wenn auch mit Unrecht — für Anhänger der Weißen gelten, kühlen sie ihr Mütchen an uns. Teilweile allerdings rührt ihre Feindschaft gegen uns noch vom Kriege her und mehr noch von der Zeit der deutschen Okkupation.

Ich erinnere mich einer Begebenheit im Herbst, die für die Weißen charakteristisch ist und die zur Zeit diesen Bauernaufstand erklärt. Ich kam abends auf der Station N.-K. an und musste in dem Ort übernachten, weil kein Fuhrmann wagte, nachts über die Steppe zu fahren. Auf der Station waren einige Züge Weißgardisten angekommen, die Ordnung in dem von ihnen besetzten Gebiete schaffen wollten. Im Dorfe brannten mehrere Höfe, die sie zur Strafe angezündet hatten. Als ich das Dorfgasthaus suchte, wurde ich von den Weißgardisten angehalten und ausgeraubt. Als ich darauf drei Offizieren begegnete, meldete ich ihnen den Vorfall. Aber sie gaben mir zur Antwort, dass es bei ihnen nicht anders wäre als in allen Aufstandsarmeen und gingen weiter. Einer blieb etwas zurück und sagte offenherzig: „Wären wir früher dem Volke entgegengekommen, so wäre es nicht so weit mit dem Verfall Russlands gekommen. Wir haben alle Schuld daran.“ —

Ich freute mich über die richtige Erkenntnis, hielt aber das Entgegenkommen in dieser Weise doch für verfehlt. War die Erlaubnis, zu plündern, etwa ein Eingeständnis, dass sie den Soldaten nun gestatten wollten, was sie bisher als ihr Vorrecht betrachtet hatten?

Tatsache ist, dass die sittlichen Begriffe vom Stehlen, die ja in Russland nie so feststanden wie in germanischen und romanischen Ländern — wer hätte nicht schon gehört von der Korruption der Zivil- und Militärbehörden Altrusslands, wie auch von dem Hang zum Stehlen im Volke allgemein? — dass diese Neigung durch die Kriege vor und nach der Revolution zu einer verhängnisvollen Verwilderung geführt hat! Wohin steuert das arme Russland? Jene Leute in Russland, die bei der Geburt dieser Ursachen zu diesen Zuständen Pate gestanden haben, wussten nicht die Folgen zu ermessen.

Beginnt man zu philosophieren, sich zu akklimatisieren? Nein, an den Sklavenzustand können sich aufrechte Menschen nicht gewöhnen! . . .

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Ein Tagebuch aus dem Reiche des Totentanzes