Chortitza-Rosenthal, am 2. März 1920.

Wir sind Fremdlinge in diesem Land. Wer es vor dem Kriege nicht empfand, der hat es während und nach dem Kriege tausendfach erfahren mühen. Wir sind in den Augen unserer russischen Nachbarn die verfluchten Njemze, die in ihrem Lande wirtschaftlich hochgekommen sind. Dass unsere Vorfahren vor 120 Jahren als Siedler ins Land gerufen wurden, um Teile der Steppe urbar zu machen, dass sie durch Fleiß und Ausdauer, sowie durch eigene kluge wirtschaftliche Organisation in gänzlich unpolitischer Weise, als Gesamtheit zu einer besseren wirtschaftlichen Stellung gekommen sind als die russischen Bauern, das ignorieren sie. Die Kolonisten, die niemals eine politische Rolle gespielt haben, sind wahrhaftig nicht schuld daran, dass der russische Bauer bis 1861 noch als Leibeigener gehalten wurde, und dass er nach seiner Befreiung in schmaler Furche neben den riesengroßen Gütern der Großen des Landes sein kümmerliches Brot suchen musste.

Die meisten Kolonisten fangen an, ernstlich darüber nachzudenken, ob eine andere Heimat gefunden werden kann. Wahrlich, es ist genug an dem, was wir ertragen mussten. Während des Krieges waren wir die Stiefkinder, die ärger als Feinde behandelt wurden, weil kein Staat sich ihrer annahm. Seit 100 Jahren waren sie die loyalsten Bürger, ohne sich je um Politik zu kümmern, weder um die innere, noch viel weniger um die äußere. Die Zarenregierung begann sie zu enteignen und bedrohte sie mit der Verbannung in die Tundren Sibiriens. Panslawistische Hetzer versuchten jedes Mittel, um den Wehrlosen Tritte zu versetzen. 1917 kam die Revolution und rettete sie von der Vertreibung nach Sibirien. Aber dann folgte die bolschewistische Oktoberrevolution und mit ihr der Bürgerkrieg und die Anarchie. Ein Wehe nach dem anderen kam über uns. Wir haben hier keine Heimat. Wir wollen fort! Die Losung „Auswandern“ geht wie ein Lauffeuer von Ort zu Ort. Wo zwei oder drei Kolonisten zusammentreten, da sprechen sie vom Auswandern. Nur das hält uns noch aufrecht, nur dieser Gedanke gibt uns Hoffnung.


Aber wie? Wohin? Mit welchen Mitteln? Werden unsere Hoffnungen auf unüberwindliche Hindernisse stoßen? Das sind bange Fragen, die gefühlsmäßig mit Hoffen und Zagen verknüpft sind.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Ein Tagebuch aus dem Reiche des Totentanzes