Chortitza-Rosenthal, am 2. Februar 1920.

Ich liege in einem anderen Hause. Die Krankheit ist überwunden. Zwar bin ich schwach, aber ich kann bereits im Bett sitzen und meine Aufzeichnungen fortsetzen.

Wie weit liegt die Zeit meiner Erkrankung zurück. Es deucht mir eine Ewigkeit.


Allein die Erinnerung ist mir geblieben, und die will ich aufs Papier bannen.

An jenem denkwürdigen Abend, als die Anarchisten unser Haus dort oben verlassen hatten, wurde nach langer Zeit unsere Haustür wieder für die Nacht abgeschlossen. Wir waren allein im Haus und fühlten uns geborgen. Aber die Krankheit nahm immer mehr von mir Besitz. Ich maß die Temperatur: ich hatte 40,1 Grad. Ich lag wieder wie in der Nacht vorher auf dem Fußboden und konnte vor Raummangel die Füße nicht ausstrecken. In dem verlausten, verlassenen Raum nebenan wollte ich nicht liegen. Der Geist jener losen Buben spukte noch in den Zimmern herum, d. h. die Erinnerung an sie wirkte beim Anblick der von ihnen benutzten Gegenstände zu stark und niederdrückend. Alle übrigen Zimmer waren in wüster Unordnung und konnten auch aus Mangel an Feuerungsmaterial nicht geheizt werden. Zudem war meine Gegenwart im Krankenzimmer immer notwendig. Frau Grete konnte nach Mitternacht auch nicht mehr aufstehen, wenn eins der Kinder unruhig wurde oder sie anrief. Nun lagen wir alle krank: mein Freund, seine Frau und beide Kinder, die Großmutter und eine 15jährige Schülerin, deren Eltern weitab jenseits vom Dnjepr wohnten.

Das Zimmer musste rasch abkühlen, denn keiner besorgte den Ofen. In mir aber stieg die Glut. Ich hatte die Vorstellung, alles im Kopf löse sich auf in kleine Moleküle, die in wildem, rasendem, immer sich steigerndem Tempo herumwirbelten. Damit sie mir den Schädel nicht sprengten, machte ich kalte Umschläge auf die Stirn. Es war entsetzlich heiß. Mit aller Kraft wollte ich die Besinnung behalten, weil ich die Verantwortung für alle fühlte. Wie viel angenehmer wäre es gewesen, sich süßem Vergessen hinzugeben. Der Flecktyphus raubt seinen Opfern sehr bald die Besinnung. Es ist insofern eine humane Krankheit. Längst verschollene Erinnerungen tauchten auf. Ganz lebendig war die Erinnerung an Gedichte Koltzows und Puschkins. Wahrscheinlich habe ich sie hergesagt.

Es war eine furchtbare Nacht! Frau Grete stöhnte. Mein Freund kam überhaupt nicht mehr zur Besinnung und warf im Delirium fortwährend die Decke von sich. Wieviel Anstrengung kostete es, mich aufzurichten und den bewusstlos Daliegenden zu bedecken! Die 14jährige Tochter wollte umgebettet werden, die Schülerin rief behändig nach Wasser und die kleine bereits Genesende bettelte um Brot. Nach dem Typhus haben die Menschen einen unstillbaren Hunger. Die Nöte der anderen ließen mich meinen eigenen Zustand etwas vergessen. Als der Morgen graute, umfing mich die Müdigkeit so stark, dass ich Lust hatte, mich der süßen Bewusstlosigkeit hinzugeben; aber plötzlich trat das Verantwortlichkeitsgefühl wieder vor meine Seele, dass ich über meine Schwäche heftig erschrak. Ich kam mir vor wie der Kapitän auf einem untergehenden Schiff, der bis zuletzt auf seinem Posten bleibt.

Ich kann nicht weiterschreiben; ich bin zu schwach.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Ein Tagebuch aus dem Reiche des Totentanzes