Chortitza-Rosenthal, am 19. Oktober 1919.

Seit einiger Zeit schreibe ich meine Notizen in französischer Sprache auf. Es wird immer gefährlicher. Machno hat seine Spitzelabteilungen beauftragt, jeden Träger einer Gegengesinnung schonungslos zu beseitigen. Um ihre Grausamkeit uns gegenüber zu begründen, bringen sie erdachte Geschichten in Umlauf. Heute kam der Kommandant höchst erregt nach Hause — es ist ihr Zuhause mehr denn unseres — und erzählte mit Schadenfreude, dass im Nachbarorte viele Deutsche aufgeknüpft worden seien.

Ich musste an mich halten, um nicht voll Entrüstung loszubrechen: Ihr Räuber und Schinder! Ich heuchelte Verständnis dafür, dass auch sie nach Rechtsgefühlen handelten und fragte, warum dies geschehen sei.


Er erzählte, wie wenn er selber an der Richtigkeit seiner Aussage glaubte. Es sei eine feindliche Abteilung unerwartet über die Brücke gekommen, und da hätten die verräterischen Deutschen Partei für jene ergriffen und hätten aus den Häusern auf die Machnowizen geschossen. Der Angriff sei zwar abgeschlagen, aber die Erbitterung der Mannschaft gegen die Deutschen allgemein sei doch durch diesen Vorfall gestiegen. Er teilte mir gewissermaßen im Vertrauen mit, dass es den Kommandanten nur mit größter Mühe gelungen sei, ihre Leute von der Rache an den Deutschen abzuhalten. —

Aus Anlass dieses Gespräches setzte ich mich unter unsere verlausten Peiniger und sprach auf sie ein, denn ich wusste, dass sie mir zuhören würden. Aber vergebens versuchte ich, die Wahrscheinlichkeit seiner Aussage zu entkräften. Es wäre undankbar, dass die Kolonisten in diesem Kampfe aus der Neutralität herausträten, weil es töricht wäre.

Wohl sei es töricht, parierte er geschickt, aber leider doch der Fall. Es sei ihm von dem Kommandanten, der die Verräter gefasst und aufgehängt hätte, selbst erzählt worden.

Ich durfte vorsichtshalber nach solchen Beweismitteln keine Verteidigung weiter versuchen. Ich musste das Thema auf ein anderes Geleise bringen. Ich stellte mich, als ob ich sie für eine politische Partei hielte und Belehrung haben wollte.

„Was verstehen Sie unter Anarchismus?“ begann ich ganz nach Art der Russen, die immer weit ausholen und umständlich sind sowohl im Fragen als auch bildlich im Auslegen. Ein paar zuckten die Achseln; „Das weiß der Teufel, wir wissen’s nicht.“ Der Kommandant aber empfindet mir gegenüber doch eine Blöße und antwortet negativ: „Wie doch! Wir sind Gegner der Weißen, der Offiziere mit den goldenen Treffen, ebenso kämpfen wir gegen die Bolschewiki, die unsere Freiheit verraten haben.“ „Sie verfechten also die Idee der Freiheit?“ fragte ich, naiv mich stellend.

„Gewiss!“ antwortet er, es darf keine politische Beherrschung geben.“ „Wie denken Sie sich das?“ — „Unser Batjko Machno kann Ihnen das besser erklären.“ Er holte aus der Tasche ein bedrucktes Blatt hervor, das ihm zu Zigarettenpapier dienen muss, wie ich an den Abrissen sehe und hält es mir hin. Sie können alle nicht gut lesen; ich möchte so gut sein und es ihnen vorlesen. Wie Bauern früherer Zeiten kommen sie mir vor, die sich neugierig und willig um den Vorleser scharen. Da hieß es denn, dass es keine staatliche Gewalt geben darf. Niemand soll herrschen und beherrscht werden. Jeder lebt nach seiner Einsicht und handelt nach seinem Gewissen. Gemeinden dürfen sich nach Belieben zu Wirtschaftsverbänden zusammentun, im Übrigen aber müsse unbeschränkte Freiheit walten.

„Glauben Sie,“ warf ich ein, dass Sie nach diesen Grundsätzen handeln?“

„Ja doch!“ betätigte einer energisch. „Es gibt bei uns keine Herrscher; wir sind alle gleich!“ — „So?“ ereiferte sich sein Nachbar. „Da unser Kommandant, erlaubt er sich nicht, so klein er ist, uns Befehle zu erteilen? Es sind starke Herrschergelüste, die unsere Kommandanten hegen!“

„Wer hat sie gewählt?“ fragte der Kommandant triumphierend.

„Ach was, gewählt,“ schreit jener. „Wenn wir zur Wahl zusammentreten, schreit dein Freund deinen Namen, so laut er kann, und da er die beste Kehle hat, bist du eben gewählt.“

Nun geht es heiß hin und her. Zum ersten Male bin ich Zeuge, wie die Anarchie auch ihren Zusammenhalt zerfrisst. Ich merke, dass die Organisation, so mangelhaft sie ist, von den absoluten Willkür-Anarchisten lästig empfunden wird. Es ist oft tagelanger Streit unter ihnen, wenn eine Abteilung die andere an der Front ablösen soll, aber endlich müssen sich die Widerstrebenden doch fügen, und das wurmt sie. Es sind primitiv denkende Menschen, die wohl Rechte, aber keine Verpflichtungen anderen gegenüber haben wollen.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Ein Tagebuch aus dem Reiche des Totentanzes