Chortitza-Rosenthal, am 16. Februar 1920.

Es geht nur langsam voran mit dem Gesundwerden. Verwunderlich ist das freilich nicht. Der genesende Leib verlangt nach der langen Fastenzeit doppelte und dreifache Zuteilung. Daraus erklärt sich, dass die Genesenden bei jedem Zusammentreffen über ihren Hunger klagen und die gute, alte Zeit preisen, als man über genug Brot, Fleisch, Eier und Milch hatte. Nach und nach verbohrt man sich in die Frage nach unserer Zukunft. Wir sehen ausnahmslos ins Schwarze oder sehen ein Fragezeichen. Was soll werden?

Gestern brachte man meinen armen Wirtsleuten noch zwei Waisenkinder ins Haus. Es sind Kinder ihrer Verwandten. Ihre Eltern hatten einen großen schönen Hof. Sie sind tot. Das Vieh ist gestohlen. Die Häuser — verbrannt. Zerlumpt und zerrissen sind schon die letzten Kleider dieser beiden Jungen; der eine ist sieben, der andere neun Jahre alt.


Sie waren kaum einige Stunden im Hause, da kam der Jüngste ängstlich schreiend zur neuen Pflegemutter gelaufen und rief immerfort: „Sie kommen, sie sind da! — Er hatte auf der Straße bewaffnete Reiter gesehen. Das Kind trug in seiner Seele die Gefühlserinnerungen an jenen verhängnisvollen Besuch, als sein Vater und sein 17jähriger Bruder vor seinen Augen ermordet wurden. Wir trösteten ihn, denn es waren Bolschewiki, die im Vergleich zu den Anarchisten Engel sind.

Ja, die Kinder! Um sie und ihre Zukunft ist uns bange. Und es sind ihrer so viele. Die deutschen Kolonisten setzten sich keinerlei Beschränkung auf in Bezug der Zahl der Kinder. In jeder Familie sind 7 bis 12 Kinder. Jetzt ist das Problem der Ernährung und Bekleidung zu einem riesigen Problem geworden. Lebten wenigstens die Väter und Mütter; aber gerade sie griff die heimtückische Krankheit so heftig an, dass Sie widerstandslos dem Tode zum letzten Tanze folgten.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Ein Tagebuch aus dem Reiche des Totentanzes