Chortitza Rosenthal, am 15. September 1919.

Fünf Tage bin ich nun hier am Dnjepr. Ich wohne oben am Abhang und übersehe von unterem schönen sonnigen Häuschen die friedliche Kolonisten-Siedlung, die unter mir wie angeschwemmt daliegt. Wenn ich dort weiter die ruhigen Fluten des Stromes dahingehen sehe, ist es mir so, als ob diese Wasser, weither vom Nordwesten aus deutschen Landen kommend, hier ein Zipfelchen deutscher Erde abgelagert hätten. Ein Geschlecht ist darauf aufgewachsen, das deutsch spricht, eigen denkt und ähnlichen Gemütes ist wie die Deutschen.

Ich weiß, dass dies die älteste deutsche Niederlassung in Süd-Russland ist. Es war eine harte Zeit, als sich vor 130 Jahren*) deutsche Siedler nach langer mühseliger Reise hier in der freien wilden Steppe niederließen und nach und nach um diesen Platz herum 20 Hofdörfer begründeten. Die ersten armseligen Hütten sind schon längst verschwunden. Ich sehe hier im Tal entlang neben stolzen Bauernhöfen fünf große Getreidemühlen, Fabriken landwirtschaftlicher Maschinen, Ziegeleien mit hohen Schloten, Banken und Handlungen, Schulen und Krankenhäuser weiß ich an diesem Ort. Durch Krieg und Revolution ist alles verkommen und erneuerungsbedürftig, aber Ackerbau, Handel und Gewerbe, Schule und Wohlfahrtspflege kann von neuem wieder aufblühen, wenn die unruhige Zeit vorüber ist. Ich sitze hier am Fenster, stütze den Kopf in die Hand und sehe hinaus, über die Häuser hinweg in die Ferne. Weithin dehnt sich die russische Steppe, und in ihr liegen verträumt die russischen Dörfer und Städte Verträumt sage ich? Nein, der Traum ist aus. Die Dörfer sind erwacht. Aber der verträumte Muschik weiß sich nicht zu orientieren; er greift unbesonnen zu, er kennt keine instinktiven Hemmungen mehr.


*) Unter Katharina II. erging 1763, als eine ihrer ersten Amtshandlungen, eine Einladung der Ausländer nach Russland.

Wir möchten wohl beiseite stehen als unbeteiligte Zuschauer. Aber es gibt hier keine Grenzen mehr, die Halt gebieten. Oft schon haben wir erfahren müssen, dass der russische Muschik uns deutschen Kolonisten nicht wohlgesinnt ist.

Aber heute, während ich durch die Äste des großen Birnbaumes den Ausschnitt einer lieblichen Landschaft sehe, will mir scheinen — und es ist so angenehm daran zu glauben — dass um mich herum Ruhe und Frieden ist. Ich bin erst einige Tage hier und kenne die Leute im Tal noch nicht. Ich weiß nicht, was sie bewegt, welche Gerüchte im Umlauf sind. Ich will es nicht wissen, Ruhe und Frieden möchte ich um mich haben.

Aber freilich, alle Begriffe sind nur beziehendlich, sie haben im Werden der Menschheit nur eine bestimmte Dauer. Danach werden sie unwahr, denn die Beziehungen und Zusammensetzungen der Zustände und seelischen Potenzen einer Zeitgemeinde sind veränderlich. Meine Begriffe von Ruhe und Ordnung sind hier andere, als sie vor einem Jahre waren, als ich in Weiteuropa lebte. Dort nennt niemand Verhältnisse geordnet, wenn der Zugverkehr beschränkt ist oder ganz aufhört, niemand ist damit einverstanden, wenn es keine Zeitungen gibt, dass die Beamten stehlen, dass allnächtlich Einbrüche vorkommen, wie wir es jetzt unter dem Regime des Generals Denikin haben. Aber es könnte noch schlimmer sein, wie wir es jetzt schon erlebt haben, und darum bezeichne ich diesen Zustand mit Ruhe und Ordnung. Ich tröste mich mit dem Gedanken: Wir leben in der Zeit einer Notgeburt.

Doch halt! Wozu diese ewigen Betrachtungen? Habe ich nicht ganze Stöße solcher Gedanken über das Werden unserer Zeit und unserer Heimat fein säuberlich niedergeschrieben?!

Ich habe mir diese schöne Gegend am Dnjepr zum Wohnort auserwählt, weil ich müde geworden bin im ideellen Kampf politischer und sozialer Ideen und Versuche. Ich bin keiner von denen, die alte Verhältnisse und Überlieferungen zurückbringen möchten. Nein! Ich halte meine Augen stets vorwärtsgerichtet. Aber ich möchte einmal abseits bleiben, ausruhen, das Erlebte verarbeiten und zur Klarheit kommen. Und in den wenigen Tagen, seit, ich hier weile, habe ich es wohltuend empfunden, dass der Reiz der Landschaft mich auf ruhige Dinge lenkt. Ich stand gestern am hohen Felsufer des Dnjepr, und da fesselte der dunkle Föhrenwald meine Blicke, wie wenn er Geheimes bergend mich lockte. Ich konnte nicht hinüberkommen, weil ich die Fähre noch nicht kenne. Das Wäldchen ist aber von keiner Seite anders zu erreichen, als dass man über das Wasser kommt, denn es steht auf einer großen Insel, die von zwei Dnjeprarme umspült wird. Hier lebten 120 Jahre lang etwa 30 deutsche Hofbesitzer. Während des Krieges wurden diese unschuldigen Ackerbauer infolge der verblendeten Hetze gegen Leute deutscher Abstammung vertrieben. Nur dank dem Umstande, dass unter dem Zarenregime alles langsam und meist zu spät kam, was am grünen Tischen geplant wurde, wohnten die meisten ehemaligen Hofbesitzer noch als Pächter auf der Insel, als die Revolution ausbrach. Etwa 15 Familien sollen auch jetzt noch auf der alten Scholle sein. Die andern sind ungern gewichen. Ja, das Zarenregime hat uns im Kriege verheißen, dass wir Deutschen mit einem Schubkarren in die Tundren Sibiriens wandern würden. Wofür? Hatten wir je Anteil an der Politik Deutschlands?

Ich muss an mich halten. Ich will mich nicht ereifern; denn ich bedarf der Ruhe. Aber man ist schon zu sehr hineingerissen in das große Geschehen unserer Zeit Es muss ja so sein, dass wir bewusst anteilnehmen an dem Neuwerden der Zustände. Solch ein Krieg, wie der große Weltkrieg, muss ja alle bisherigen Zustände umwerfen. Der Krieg hat das Denken umgestellt, hat das Gefühl revolutioniert. Unsere Welt ist verrückt, von der Stelle weggerückt worden. Nun wissen wir nicht, wie wir uns neu einrichten sollen. Da kommen die Bolschewiki und wünschen Anpassung an ihr Regime. Bald darauf kommt irgendein General daher und verlangt Gehorsam für seine Befehle. So hatten wir ein Regime nach dem anderen. Auf das Zaren-Regime folgte die Kerensky-Regierung, dann die nationalistisch-ukrainische Rada-Regierung, die wieder gestürzt wurde von den Okkupationsmächten zu Gunsten einer autokratischen Hetman-Herrschaft. Mit dem Abzug der Deutschen war auch sie wie der Schnee vor der Märzsonne verschwunden. Kurze Zeit hielt sich nun das ukrainische Petljura-Regiment, bis die Bolschewiki abermals die Gewalt an sich rissen. Dann begannen Griechen und Franzosen die Besetzung, und Banden aller Schattierungen beherrschten hier und dort ein Gebiet für sich. Wieder zogen die roten Regimenter bei uns ein, und wieder wichen sie neuen Herrschern mit neuen Verheißungen. Jedes Mal soll die Bevölkerung sich der jeweiligen Herrschaft unterwerfen und anpassen. Jede beschimpft und verhöhnt die vorangegangene und fordert deren Bekämpfung. Wen wundert’s, wenn keine mehr Ansehen gewinnt, denn wie bald ist jene neue vertrieben, und dann muss auch sie als die schlechtere gelten.

Wir sind wie auf einer Drehbühne, die nicht zum Stehen gebracht werden kann. Bild folgt auf Bild vor den Augen Europas. Wir aber sind es, die handelnd darstellen mühen. Was letzter Wahlspruch, neueste Farbe erfordert, will der Zuschauer sehen. Könnten wir im Zuschauerraum sitzen und dem bunten Spiel zusehen, dann würden wir nach der 3. oder 5. Handlung müde heimgehen und ausruhen, wie es die Leute tun dort, wo es regelrechte Theater gibt. Nun aber gehören wir mit zu den Darstellern, und die Drehbühne hält nicht an nach dem 3. oder 5. Szenenwechsel. Wir spielen weiter, fort und fort. Es ist so wie in jenem Märchen von den verhexten Tänzern, die immerzu tanzen müssen, ohne je aufhören zu können.

Ich wollte ausscheiden aus der Reihe der Darsteller, wollte die Bühne verlassen, aber ich sehe ein, dass es unmöglich ist. Die Bühne verlassen, hieße Russland verlassen. Wer sagt mir, wie ich aus diesem Hexenkessel herauskomme?

Vielleicht darf ich solch ein Verlangen nicht tragen. ,,Unser Schicksal“ ist das Drama, das wir spielen. Möglicherweise muss eine der tausend Rollen gerade ich spielen. Vielleicht bin ich nicht bloß Statist. Ich weiß nicht, wo die Regie ist. Niemand weiß es. Als ich hier einen Platz zum Ausruhen suchte, spielte ich vielleicht gerade die Rolle, die mir zugedacht war. Wollte ich denn müßig ausruhen? Wollte ich nicht an eine schwer aufbauende Arbeit gehen? Wir wollen Lehrer heranbilden. Ich freue mich auf diese Arbeit! Wir brauchen Führer, die unser Kolonistenvolk das Leben bejahen lehren.

Auch der deutsche Kolonist, der bisher allem Weltgeschehen fremd gegenüberstand, ist durch den allgemeinen Aufruhr aufgeschreckt worden. Er hat nicht mehr die Steppenruhe, lebt nicht mehr in der Weltabgeschiedenheit, wie ehemals. Die Not lehrt uns neue Wege gehen, lehrt auch uns den Herzschlag der Welteinheit fühlen.

Wenn ich die Kennzeichen der letzten Entwicklungsphase Russlands zu deuten versuche, so ahnt mir von kommenden Ereignissen, die noch verhängnisvoller werden können als alle, die wir erlebt haben. Die politische Atmosphäre ist schwül: es muss eine Entladung kommen. General Denikin glaubt, das Rad der Geschichte zurückdrehen zu können. Wie übel ist er beraten! — — —

Ich habe soeben durchgelesen, was ich heute in mein Tagebuch geschrieben habe und sehe ein, dass es schwer ist, sein Denken und Fühlen freizuhalten von dem politischen Geschehen unserer Tage. Unser Kampf steht nicht im Zeichen ruhiger Überlegung, sondern im Zeichen leidenschaftlicher Gefühle und erregter Gemüter.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Ein Tagebuch aus dem Reiche des Totentanzes