Chortitza-Rosenthal, am 15. Oktober 1919.

Gestern besuchte ich unsern alten Nachbar. Er ist ein pensionierter Lehrer, der freilich keine Pension mehr bezieht, seit alles drunter und drüber geht. Es ist ein schweres Leben für den alten Mann, der 35 Jahre lang einen schweren Beruf ausgefüllt hat. Nun muss er darben. Sein Haus wird ganz besonders schwer heimgesucht. Wiewohl man vielmals seine Räume durchsucht und alle Pelze und warmen Kleider entwendet hat, begehren sie alle Tage neue Schätze von ihm. Seine Töchter hatten im Garten silberne Löffel vergraben, und seitdem sie gefunden worden sind, lässt man nicht nach, ihn zu quälen mit allen Mitteln. Gestern stellten diese verlotterten Buben mit dem ehrwürdigen Mann wieder ein Verhör an. Er sollte das Versteck von Gutsbesitzern angeben. Er hat tatsächlich keine Ahnung von ihrem Verbleib. Man wollte ihn als Hehler erschießen. Man stellte ihn an die Wand, das Gesicht der Wand zugekehrt. Dann ließ man die Gewehre knacken, ohne zu Schießen. Sie erzeugten in dem Manne eine qualvolle Todesangst, nur um ihn gefügig zu machen. Sie erschossen ihn nicht, aber seine Nerven sind sehr stark mitgenommen. Während der Greis mir sein Erlebnis erzählte und sichtbarlich durch meine Teilnahme Erleichterung fand, begann sich das Haus von neuem zu füllen. Man hatte den Eindruck, dass diese neuen Ankömmlinge wieder etwas im Schilde führten. Mit besonderer Neugierde wurde ich aufs Korn genommen. Ich merkte, dass sie in mir einen Gegner vermuteten. Ich trotzte ihren forschenden Blicken, war aber schließlich doch erstaunt, dass niemand mich in Verhör nahm.

Heute erfuhr ich, dass sie sich nach meinem Fortgang angelegentlich nach mir erkundigt haben. Sie glaubten bestimmt, in mir einen Offizier zu erkennen. Der alte Mann hat ihnen erklärt, dass ich ein Gelehrter war. Aber sie haben es wohl nicht geglaubt.


Heute kamen einige wild aussehende Kerle zu uns ins Haus und stellten mich zur Rede. Ich hätte am Vorabend die Beschießung beobachtet: ich wäre vor dem Hause auf und abgegangen und hätte Ausschau gehalten. Sie wüssten auch, dass ich ein Maschinengewehr versteckt halte.

Ich konnte mich nicht enthalten, zu lachen, denn es klang gar zu ungeheuerlich. Ich gab ihnen zu verstehen, dass ich wohl wüsste, dass ihre Willkür einen Vorwand suchte. „Gewiss,“ sagte ich, „wiewohl ich aus der ganzen Schießerei nicht klug werde, schaue ich doch alle Tage danach aus, ob es nicht eine Wendung gibt, gleichgültig nach welcher Seite hin. Wir wissen gar nicht einmal, wer eure Gegner sind. Für uns ist das Fronleben unerträglich geworden. Ihr müsst begreifen, dass uns dies Sklavenleben an den Rand der Verzweiflung gebracht hat.“

Im Übrigen appellierte ich an untere fremden Hausgenossen. Die wagten weder für mich noch für jene einzutreten. Sie schwiegen. Merkwürdig ist es immerhin, sie haben mich in Ruhe gelassen. Ob es der Einfluss unterer Hausgenossen war, die Ehrfurcht haben vor einem Schriftsteller?

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Ein Tagebuch aus dem Reiche des Totentanzes