Chortitza-Rosenthal, am 15. Februar 1920.

Ich musste nach dem ersten, bei so ungünstigem Wetter gewagten Ausflug abermals ein paar Tage das Bett hüten. Die Temperatur stieg und es waren alle Anzeichen einer Lungenentzündung vorhanden, besonders heftige Stiche, die mir den Atem benahmen.

Heute fühle ich mich besser. Ich habe das Bett verlassen. Es ist mir verleidet, umso mehr, als es zu kurz ist und ich mich während 40 Tage nicht ausstrecken durfte, was mir oft Tantalusqualen verursachte; aber es war kein anderes Bett vorhanden.


Ich sitze am Ofen, habe den geretteten Mantel über die Schultern gelegt, und doch friert mich. Ich fasste heute ein Stück vom zerbrochenen Wandspiegel und erschrak bei meinem Anblick. Wir sind zum Spott der Menschen geworden. Die Augen liegen tief im Kopf; die geschorenen Haare gehen stellenweise aus, der Bart wächst ungepflegt unregelmäßig weiter . . . So sehen alle aus. Die Frauen sind ihres Haarschmuckes beraubt, weil während der Krankheit die Haare lästig sind und sie später unrettbar ausgehen.

Am Nachmittag. Ein schwaches winterliches Sonnenlächeln erfüllt das dumpfe Zimmer. Ich greife zum Notierstift. Nur wenige Blatt Papier sind mir geblieben. So muss ich mit spitzem Stift ganz sparsam beschreiben, denn es gibt kein Papier mehr in Russland, und wäre noch etwas bei Spekulanten, so fände ich doch nicht so viel Geld, um es zu bezahlen.

In der Nikolaipoler Wollost (Landbezirk) wütet der Flecktyphus ebenso heftig wie bei uns. Die Witwen aus Eichenfeld, jenem Ort, wo in einer Nacht alle Männer ermordet wurden, sind mit wenigen Ausnahmen an Typhus gestorben. Wen wundert’s? Sie hatten nach jener Schreckensnacht und den darauffolgenden Sorgetagen keine Widerstandskraft mehr, die sie der Krankheit hätten entgegensetzen können. Sie sind tot, wie ihre Männer. Um sie sorgen wir uns nicht mehr. Aber die Kinder blieben zurück. Aus dem einen Hofdorf allein sind 200 deutsche Waisenkinder zurückgeblieben. Die Wohnungen ihrer Eltern sind vernichtet worden. Entweder sind die Häuser abgebrochen, des Nutzholzes wegen, das zurzeit in der Ukraine von unschätzbarem Wert ist, oder sie sind eingeäschert worden. Sie müssen in unseren 16 Hofdörfern untergebracht werden. Doch, was sage ich da? Unser Bezirk hat keine 16 Hofdörfer mehr. Aus 4 Dörfern sind die deutschen Kolonisten vertrieben worden. Die ehemaligen schönen Höfe sind nunmehr traurige Ruinen. Auch diese Menschen müssen, so viele ihrer noch am Leben sind, bei uns untergebracht werden. Wie kann man ihnen helfen? Wir müssen mit ihnen kommunistisch leben. Ach, wir sind ja so gefügig geworden. Wir hätten wohl früher von unserem Überfluss kaum so bereitwillig mitgeteilt, wie wir es jetzt in unserer Armut tun. So sind wir Menschen! Ich bin überzeugt, wenn man in Welteuropa wüsste, wie elend wir dran sind, so würden sie wohl dort für ein Viertelstündchen Mitgefühl mit uns zeigen, vielleicht sogar ein Almosen für uns übrighaben; aber helfen würden sie uns nicht, denn sie können das Entsetzliche unserer hilflosen Lage nicht ermessen: ich kenne Welteuropa.

Wie stark sind wir nach dem Friedhof ausgewandert. 40% unserer Bevölkerung sind dort angesiedelt worden. In Chortitza gab es außer den Industriellen und Handwerkern 38 Hofbesitzer. Nur noch 7 sind am Leben. Einige Familien sind ganz ausgestorben. Man ist in Häuser gekommen, wo die letzten Einsamen bereits 8 Tage tot in ihren Betten lagen. Ein Mann wurde in der Ecke hockend aufgefunden. Vermutlich ist er vor Ermattung zusammengesunken und dann verhungert. Man fand keinen Bissen irgendwelcher Nahrung in diesem Hause. In der Regel sind auch hier bei uns die Eltern von der Krankheit weggerafft worden, während die Kinder zurückgeblieben sind. Ohne fremde Hilfe sind sie verloren. Unpolitische Köpfe hoffen, dass Deutsche, Engländer, Franzosen oder Amerikaner zu Hilfe kommen würden, wenn sie auch etwas holen könnten.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Ein Tagebuch aus dem Reiche des Totentanzes