Chortitza-Rosenthal, am 13. November 1919.

Nun ist kein Arzt mehr zu holen. Beide sind gefährlich krank und man fürchtet, dass sie nicht mehr aufkommen. Außer Frau Grete und mir sind jetzt alle krank bei uns. Ich muss zusehen, dass ich morgens und abends den Ofen heizen kann. Ich fälle bereits Gartenbäume. Es ist kein anderes Holz vorhanden Frau Geete plagt sich mit den Kranken ab. Tag und Nacht mühen wir bei ihnen sein. Nachts ist es noch schlimmer als am Tage. Einer allein kann nicht mit den Kranken fertig werden. Und doch können wir ihnen kaum helfen. Die einzige Linderung, die ihnen gebracht werden kann, besteht darin, dass wir ihnen die heiße Stirn kühlen und Wasser zu trinken geben. Oft haben wir allergrößte Mühe, die bewusstlos Phantasierenden zu beruhigen. Man kommt sich vor wie in einem Irrenhause. Während ich am Bette sitze und schreibe, entreißt mir plötzlich das vierzehnjährige Mädchen das Blatt und will lesen, ob ich nach Deutschland geschrieben habe, damit sie uns von dort Flugzeuge schicken, die uns von hier wegholen. Ihr Wunsch kindlicher Art kommt da zum Vorschein. Dann wieder fragt sie mich, ob die Meerfrau Zucker gebracht habe. Sie möchte den Tee mit Zucker gesüßt trinken.

Dann springt plötzlich mein Freund, von seinem Lager und gibt erregt vor, er müsse seiner Frau beistehen, die draußen von diesen . . . (wir benennen die Anarchisten gewöhnlich nicht) bedroht werde. Ich beruhige ihn. —


Ich ging heute am Tage für ein halbes Stündchen fort. Ich musste sehen, wie es in den Nachbarhäusern aussieht, ob es denn überall so zugehe wie bei uns. Überall dasselbe Bild. Die Gefunden gehen wie Schatten einher. Die Anarchisten fangen an, die Kranken wegzubringen in die benachbarten Ortschaften. Die Gesunden verlangen aber unentwegt unseren Sklavendienst wie ehedem, unbekümmert darum, ob wir unsere Kranken pflegen können oder nicht. Sie sind die Herren und ihrer Willkürlaune haben wir widerstandslos zu folgen. Wir sind kaum noch fähig, uns moralisch zu widersetzen.

Die Schulhäuser sind Krankenhäuser der Anarchisten geworden. Deutsche junge Männer und Mädchen — darunter in erster Linie unsere Seminaristen, soweit sie noch nicht erkrankt sind — müssen sie pflegen. Weil die Zahl der Gesunden in unterem Ort zu gering ist, holen sie Pfleger aus den benachbarten Ortschaften herbei. Sobald sie angesteckt sind, kehren sie in ihre Dörfer zurück, und so greift auch dort die ansteckende Krankheit um lieh.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Ein Tagebuch aus dem Reiche des Totentanzes