Chortitza-Rosenthal, am 13. Dezember 1919.

Es ist ein sonniger Frosttag. Wir hörten früh am Morgen Dröhnen von Geschützen und horchten auf: sollte es eine Wendung gehen? Trägt das Eis vielleicht? Unsere Telefonisten sprachen aufgeregt am Fernsprecher. Aber dann vermummten die Geschütze, und nur das Knattern der Gewehre war vernehmbar wie vorher.

Als am Nachmittag die Kranken etwas ruhiger zu werden scheinen, entschließe ich mich zu einem Rundgang durch die Nachbarhäuser. Ich suche gleichzeitig etwas Aufmunterung für mich selbst, denn stumpf und schwer fühle ich die Last des Leides.


Aber niemand ist da, der Trost weiß. Die Gesichter nehmen nach und nach einen versteinerten Ausdruck an. Man lässt an sich herankommen, was will. Wohl zuckt die Wimper im Schmerz, und Wehmut legt sich um den Mund; aber Hoffnung gibt es nicht mehr. Menschen sterben hier wie die Fliegen nach einem Gifttrunk. Am ehesten erliegen die Menschen, die seelisch am stärksten gelitten haben, vor allem die Eltern. Am sichersten kommen die Kinder durch und junge kräftige! Menschen. Menschen mit schwachem Herzen sind sichere Todeskandidaten. Unvergesslich bleibt mir das Bild im Hause M. Ich trete ins Haus. Es rührt sich kein Mensch. Selbst die Anarchisten fehlen. Ich schritt durch leere, schmutzige, verlassene und kalte Zimmer. Ich vergegenwärtige mir einen Augenblick, wie stolz und reich dieser Bauernhof einst aussah. Und jetzt?

Ich öffne eine Tür und — da liegen sie alle: der Hofbesitzer, seine Frau und seine sieben Kinder. Auf Stroh sind sie gebettet und mangelhaft zugedeckt. Niemand hat den Ofen geheizt. Darum waren auch die Anarchien weggegangen Ich übersehe die Reihe der Kranken und nähere mich dann dem jüngsten Kinde. Ich fasse sein Händchen an. Es ist kalt; eiskalt ist auch das kleine Gesicht. Nun begreife ich: es ist tot. Vermutlich ist es bewusstlos vom Stroh auf den kalten Fußboden gerollt, und da hat der Frost dem kranken Kinde den Gnadenstoß gegeben. Leise teile ich es den Eltern mit. Mit angstverstörtem Gesicht müht sich die Mutter krampfhaft, sich aufzurichten, um ihr totes Kind zu sehen. Es will ihr nicht gelingen. Ich richte sie auf. Sie beginnt zu phantasieren, und da lege ich sie wieder zurück ins Stroh.

Dann gehe ich Hilfe zu suchen für Menschen, die dem Tode geweiht scheinen. Zwei Jungfrauen, Waisen, die in vielen Fällen die Pflege übernommen haben, sollen nun auch diese Familie pflegen.

Leute, die am Friedhof vorbeigekommen sind, behaupten, dass es dort keinen Platz mehr gibt. Und die Zahl der Toten wächst täglich.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Ein Tagebuch aus dem Reiche des Totentanzes