Chortitza-Rosenthal, am 11. Oktober 1919.

Wir waren in arger Aufregung. Bis jetzt stand die Kuh, die Frau Grete aus dem Stalle ihres Bruders entführt hatte, bei uns im Stalle an Stelle der verendeten. Irgendeiner der Banditen ist bei der Entführung Frau Grete gefolgt oder hat es auf andere Weile ausspioniert, dass die Kuh aus dem Stalle des verlassenen Hofes stammt. Nun kam er heute und forderte die Kuh zurück. Frau Grete wandte sich an unsere Einquartierung. Sie möchten doch dafür eintreten, dass die Kuh uns erhalten bliebe, wenn sie künftig hin Milch trinken wollten. Allein, das war zu viel verlangt, dass sie für uns einstehen sollten gegen ihre eigenen Diebsgenossen. Woher die Milch kam, war ihnen gleichgültig, verzichten würden sie nicht darauf. Da sollten wir zusehen.

Der fremde Reiter nahm also die Kuh und ritt davon. Frau Grete aber gab die Sache nicht auf, denn sie hat eine alte Mutter und zwei Kinder im Hause, die Milch nicht entbehren können. Sie wusste ferner, dass die einquartierten Anarchien nach wie vor Milch verlangen würden. Daher ging Frau Grete dem Räuber nach und begann einen Handel mit ihm. Er solle ihr die Kuh verkaufen, schlug sie vor. Jener verlangte zehntausend Rubel. Sie bot ihm tausend, wiewohl sie auch diese Summe nicht bar hatte. Nach langem Feilschen wollte der berittene Bandit, der mit der Kuh nicht rasch fortkommen konnte, sie uns für dreitausend Rubel zurückgeben. Nun eilte Frau Grete von Haus zu Haus, um diese Summe leihweise zusammenzubringen. Ich hatte irgendwo mein Geld versteckt u. wusste nun selbst nicht mehr, an welchem Ort. Ich entsann mich aber, dass es auf dem Boden unter dem Dache sein musste. Ich stieg leise auf Strümpfen die Treppe hinauf, um es unsere Gälte es nicht merken zu lassen. Bald fand ich zum Glück das Versteck und eilte nun auf den Feldweg, wo der Bandit langsam mit der Kuh davonritt. Er hatte den Handel für sich nicht bindend gehalten. Ich bot ihm das Geld; aber er verlangte nun eine größere Summe. Ich hatte Mühe, ihm glaubhaft zu machen, dass die arme Frau kein Geld habe. Dann führte ich die Kuh, so rasch es anging davon und versteckte sie in dem kleinen Stalle.


Nach einiger Zeit kehrte Frau Grete zurück und war traurig, denn sie hatte die Summe nicht zusammengebracht; jeder ist bis aufs letzte ausgeraubt. Wie froh war sie, als ich ihr erzählte, dass mein Geld ausgereicht hätte.

Nun haben wir wohl eine Kuh; aber die Hühner haben sie uns weggeholt. Es waren junge Hühnchen, die trotz der kalten Witterung fleißig legten. Die tapferen Helden haben folgendes Verfahren beim Hühnerfang erfunden. Sie hauen mit ihren Säbeln den armen Tieren die Beine ab oder verwunden he auf andere Art und kommen dann mit ihrem Wildbret zur Wirtin, die ihnen einen Hühnerbraten oft mitten in der Nacht bereiten muss. Aber auf Eier verzichten sie trotzdem nicht!

Uns regen all diese Dinge fast mehr auf als der Tod der Menschen; denn die Toten sind aller Leiden enthoben. Manch einer beneidet sie. Wir brauchen, solange wir leben, Lebensmittel. Damit geht es aber allenthalben rasch zu Ende. Es wird von Tag zu Tag schwieriger, unsere Peiniger zufrieden zu stellen. Je mehr die Frage der Ernährung sich zuspitzt, desto ungehaltener und wilder werden sie. Es ist kaum zu vergehen, dass sie kein Einsehen haben. Sind sie wirklich vertierte Menschen?

Sie glauben, wir halten noch Lebensmittel versteckt. Wie sollte uns das möglich sein? Sie gehen durch alle Zimmer, schauen in alle Schränke; sie steigen unter das Dach und in den Keller. Holten sie nicht neulich den Rest von Fleisch aus unserem Keller? „Koch uns das“, befahlen sie der Wirtin. Frau Grete ist nicht so ängstlich wie die meisten Frauen. Sie erwiderte: „Ich koche euch nicht alles auf einmal. Die Hälfte genügt für heute. Das übrige sollt ihr morgen haben.“

„Wir denken nie an morgen“, geben jene zurück, „drum bereite uns alles noch heute zu. Koche eine Fleischsuppe und gib uns einen reichen Braten. Das befehlen wir.“ Auf „befehlen“ lag der Ton.

Einsicht predigt man solchen Leuten vergebens. Frau Grete regt sich auf über diesen Unverstand. Sie begreift nicht, dass so viel Fleisch gegessen werden kann. Ich versuchte es ihr verständlich zu machen. Die reißenden Tiere fressen viel Fleisch, die friedlichen Kühe und Pferde fressen Gras.

Frau Grete hatte sich nicht geirrt. Am nächsten Tage brauchten die Anarchisten tatsächlich kein Fleisch. Sie haben sich übergehen und liegen und höhnen. Aber am übernächsten Tage wollen sie wieder einen Braten haben. Es nützt kein Fluchen, Frau Grete kann kein Fleisch beschaffen. Sie sandten dann einige ihrer Komplizen aus; die brachten nach einiger Zeit ein halbes Dutzend Hühnchen. Frau Grete musste gehorsamst zu ihren Diensten sein und einen Braten daraus machen . . .

Vierzehn lange Tage ertragen wir nun schon diese Plage. Die ununterbrochene Erregung macht uns ganz flügellahm. Unsere Energie reicht kaum mehr aus, jeden Tag von neuem zu hoffen. Jeden Morgen treten mein Freund, seine Frau und ich zusammen und besprechen unsere Lage. Nach unserer Berechnung können sie sich nicht mehr halten, denn es gibt einfach nichts mehr zu essen. Aber die Anarchisten rechnen anders. Sie schlachten Kühe, die in einigen Wochen kalben sollen. Sie senden Expeditionen in alle deutschen Hofdörfer und holen Brot oder Mehl herbei. — Ja, wir können uns der Erkenntnis nicht verschließen, dass diese Räuber den Hungertod nicht sterben werden, solange es noch irgendwo Brot zu rauben gibt. Wir kommen allerdings sehr bald ans Hungern. Die meisten der unsrigen essen jetzt schon nur noch Kartoffeln. Unsere Körperkraft nimmt ab. Ich merkte es heute, als ich ein paar Birnbäume im Garten umhieb, um sie zu Brennholz zu zerkleinern. Ich musste oft aussetzen, um auszuruhen.

Unsere Rettung kann nur durch eine Verschiebung der Kampffront kommen. Jeder anwachsende Kanonendonner und jedes gesteigerte Knattern der Gewehre macht uns Mut zu hoffen. Es ist uns gleichgültig, wohin die Front sich verschiebt, wenn sie nur über uns hinweggeht.

Jene drüben haben eine bessere Artillerie; aber der Strom ist ein zu großes Hindernis. Es ist nicht leicht, herüber zu kommen und Batjko (= Väterchen) Machno ist listig und hat ergebene Leute. Seine Scharen mehren sich tagtäglich. Die Aussicht, nach Belieben zu plündern, lockt viele herbei. Man spricht von hunderttausend Mann. Sicher ist dies ein Gerücht, das übertreibt; aber dass es ihrer viele sind, sehen wir: Drei Schritte vom Haus begegnet man ihnen schon gruppenweise. Es sind bezeichnenderweise fast ausschließlich Bauern. Die Industriearbeiter sind nicht Anarchisten. Sie erkennen eine gewisse Organisation an und halten zu den Bolschewiki oder anderen sozialistischen Parteien. Die bäurischen Willkür-Anarchisten suchen sich in diesem Aufstand mit Kleidung zu versorgen. Ohne Zweifel sind die Bauern in der Ukraine in großer Not. Die Bauern in Groß-Russland lebten von je her ärmer und versorgten sich selbst: sie webten Leinwand und nähten sich Kleider daraus. Für den Winter verfertigen sie aus Schaffellen Pelze und flechten Bastschuhe aus Baumrinde. Diese Art sich zu kleiden, war im Norden jedenfalls in einem gewissen Umkreis von Moskau noch üblich. Daher mag es kommen, dass der großrussische Bauer sich ruhiger verhält. Der ukrainische Bauer auf der fruchtbaren Scholle war ein reicheres Leben und bessere Kleidung gewöhnt. Daher entbehrt er jetzt die Fabrikerzeugnisse weit mehr als der Großrusse. Außerdem ist ohne Zweifel der ukrainische Bauer rebellisch geworden durch den ewigen Regierungswechsel. Hat er nicht seit zwei Jahren fast mit jedem Neumond auch eine neue Regierung, die mit dem Mondwechsel wieder verschwindet? Bei ihm kann nicht bald eine Regierung aufkommen, die eine Autorität gewinnt. Es sind gewisse sittliche Begriffe ins Wanken gekommen, die die Voraussetzung einer jeden Staats- und Regierungsform sein müssen.

Die Massen sind sich ihrer Macht bewusstgeworden, nur haben sie nicht gelernt, diese Macht zu gebrauchen als eine Macht der Ordnung und Organisation. Einst jubelten sie den Bolschewiki zu, denn sie erlaubten, vom Land Besitz zu ergreifen. Aber da auch jene eine Organisation durchzuführen versuchten und gar noch auf dem Wege der Diktatur ihre Ordnung durchzudrücken begannen, da wurden sie ernüchtert. Nun warben die ukrainischen Nationalisten und die Anarchisten um sie. Die Weißen wollten ihnen ihren Willen aufdrängen. Machno, der Listige, versteht die Bauern zu gewinnen. Land und Freiheit war die Losung der Bauern von je her. Das Land haben sie im Besitz. Sie denken nicht daran, dass die Willkür auch einen jeden von ihnen treffen kann.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Ein Tagebuch aus dem Reiche des Totentanzes