Chortitza-Rosenthal, am 10. Oktober 1919.

Man könnte lachen, wenn alles um uns herum nicht so tragisch wäre! Ich soll ein Gedicht auf Machno machen! Das haben unsere Telefonisten gewünscht. Sie haben es nicht mir gesagt, sondern meinen Freund gefragt, ob ich wohl dazu bereit sein würde. Sie stellen sich vor, Väterchen Machno müsste auch mir als Held erscheinen. Sie wollen das Gedicht Väterchen überreichen und dann seiner besonderen Gunst sicher sein.

Mein Freund hat es ihnen auszureden versucht. Ich schriebe nur deutsch, hat er gesagt.


Das wundert sie: sie hätten geglaubt, dass ich ebenso gut russisch schriebe wie ich spräche. Sie hätten mich sehr darum gebeten.

Es sagte aber niemand etwas zu mir, und ich benehme mich, als wüsste ich nichts von ihrer Unterredung mit meinem Freunde.

Gestern machte ich mir etwas auf dem Hofe zu schaffen, denn es wird einem fast unmöglich, etwas zu lesen oder zu schreiben: die innere Spannung ist zu groß. Die Gedanken jagen wie gehetzt im Gehirn herum. Da sucht man sich irgendeine Handarbeit; das beruhigt am ehesten. Diesmal mühte ich mich, das Fell der verendeten Kuh über eine Stange zu spannen und im Schuppen aufzuhängen. Das sah der Kommandant. Er eilte herbei, grüßte und half bereitwillig. Ich war verdutzt. Das hätte ich von solchen Menschen nicht erwarten können nach ihrem bisherigen Benehmen. Wir kamen in ein ruhiges Gespräch, wobei er meine Ansichten gelten ließ und mich nie duzte, wie es diese Leute noch immer tun. Ich bekam den Eindruck, dass dieser Mann an sich keine verbrecherische Natur ist. Er erzählte mir von seinem Vorleben. Er ist Kosak. Während des Krieges hat er sich wiederholt ausgezeichnet durch seine Tapferkeit. Er war Unteroffizier und ist dann Feldwebel geworden. Aber nach und nach ist ihm die Korruption der Offiziere und Beamten zum Bewusstsein gekommen. — Nach dem Ausbruch der Revolution war er Vorsitzender der Kreissowjets in seiner Heimat am Don. Er handelte nach den Direktiven aus der Zentrale und glaubte, dem Volke zu dienen. — Nach dem Abzug der Deutschen aus der Ukraine bildete sich in ihrer Gegend die Armee des Generals Denikin. Sie ließ eine fürchterliche Racheexpedition übers Land gehen. So wurde auch er als ehemaliger Vorsitzender der Sowjets festgenommen und von Offizieren zu 80 Hieben mit dem Ladestock verurteilt. Nur dank seiner ungemein kräftigen Konstitution überstand er diese Marter, aber den Offizieren und ihren Anhängern schwor er ewige Rache und wird ohne Zaudern dabei geriet er in Eifer — jeden Offizier, den er findet, erschießen. Ich fragte, ob er es gutheiße, dass man alle schönen und guten Häuser verbrenne, nur weil Anhänger des alten Regimes darin gewohnt haben mochten. Es sei doch eine törichte Vernichtung des Volksvermögens. Nein, er hieß solche Zerstörung nicht gut, aber ihre Leute wären nun einmal nicht zu zügeln. Ich kann das psychische Verhalten dieses Mannes verstehen, aber ich muss die Konsequenzen seines Handelns verurteilen und ihn deshalb für verirrt halten. Wären alle Machno-Anhänger wie dieser, man könnte versuchen, sie umzustimmen Dieser hörte auf das, was ich ihm sagte und folgte meinen Ausführungen. Ich bat ihn, seine Kameraden doch zur Einsicht zu bringen. Er schien von der Möglichkeit, die Raub- und Mordlust zu dämpfen, nicht überzeugt zu sein. Mag sein, dass auch ihm noch zu sehr Bedürfnis ist, Rache zu üben. Sein starkes Erlebnis hat offenbar eine ungemein starke Reaktion wachgerufen, die er verdrängen musste. Und jene Verdrängung macht es psychologisch verständlich, dass er in seiner Rachehandlung ein Auswirkungsventil gefunden hat. - Man kann es begreifen bis zu einem gewissen Grade; aber unsere Lage bleibt nichtsdestoweniger traurig, nein tragisch, im höchsten Grade tragisch!

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Ein Tagebuch aus dem Reiche des Totentanzes