Ein Strandvolk. - Die Scheveninger

Aus: Die illustrierte Welt. Blätter aus Natur und Leben, Wissenschaft und Kunst ...
Autor: Redaktion: illustrierte Welt, Erscheinungsjahr: 1869
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Holland, Strandvolk, Nordsee, Fischer, Sitten und Gebräuche
Am Strande von Scheveningen bauen sich die prächtigsten Hotels, Kaffees, Pavillons und Badehäuser auf, die uns ganz in das Leben der großen Städte versetzen, wenn wir dazu die glänzenden Toiletten der auf dem weichen Sande beim Klange der Musik Promenierenden sich hin und her bewegen sehen.

Aber das ist nicht Scheveningen. Man kann mehrere Sommer dort zugebracht haben, ohne das Fischerdorf zu kennen. Hinter den eleganten Wohnungen, welche unser Auge täuschen, bergen sich enge Gassen, armselige Backsteinhäuschen, in denen eine schweigsame und dürftige Bevölkerung wohnt. An der Türe dieser Nester, vor denen Wäsche, Netze, rote Hemden und ganze Paternoster von aneinandergereihten Fischen trocknen, erscheint von Zeit zu Zeit die traurige Gestalt einer durch das Fieber gealterten und abgemagerten Frau. Die Kinder spielen mitten in diesem Elend, als ob es ein Privilegium ihres Alters wäre, nichts von Unglück und Armut zu wissen. Die Bevölkerung des Fischerdorfs überschreitet die Zahl von 800 nicht, die zur Hälfte katholisch, zur Hälfte reformiert ist, und zwar bekennen sich die Wirte und Fischhändler zur ersteren, die Schiffsreeder und Fischer zur letzteren Konfession.

Das Dorf hat zwei trefflich gehaltene Schulen, in denen die Kinder ein wahres Asyl finden und wo sie Lesen, Schreiben, Rechnen, Geographie und ein wenig Geschichte lernen. Aber mit zehn und zwölf Jahren verlassen sie bereits die Schule — das Meer fordert eine Rechte. Jeder Fischersohn wird wieder Fischer. Gewandt, unerschrocken, gewissermaßen das Seemannsblut in den Adern, erwirbt er bald die Kunst, ein Schiff zu lenken und die Netze auszuwerfen. Mit sechzehn oder siebzehn Jahren kennt er bereits das Handwerk. Diese neue Schule verwischt die Eindrücke der früheren. Es bleibt ihm wenig mehr als ein wenig Kenntnis des Lesens, das für seine Bibel genügt; selten vermag er noch seinen Namen zu schreiben. Die Unwissenheit ist ein erster Charakterzug des Fischers, dem ein anderer sich verbindet, das feste Hängen an den Überlieferungen. Er macht Alles, wie es die Voreltern gemacht.

Die maritime Bevölkerung Scheveningens vermischt sich durchaus nicht mit den Fremden, und unter Fremden muss man hier die Holländer selbst verstehen. Einer von diesen, der in Rotterdam geborenen, aber seit zwanzig Jahren in dem Dorfe ansässig war, erzählte mir, dass er immer noch wie ein Ausländer behandelt werde. Die Originalität dieser Bevölkerung erhielt sich die Sprache, die Tracht, Sitte und Gewohnheit wie hinter einer unübersteiglichen Brustwehr.

Die Sprache dieser Fischer ist eine Art Patois, das wesentlich vom gewöhnlichen Holländisch sich unterscheidet. Ihre Tracht ist nicht minder eigentümlich, namentlich bei den Frauen: sie tragen im Winter ein Leibchen von Sarsche, einen Rock von gleichem braunen Stoffe und ein langen, rot ausgeschlagenen Mantel mit stehendem Kragen. Diese Tracht hat etwas Düsteres, eignet sich aber vortrefflich zum Klima. Ein großer Hut von grobem Stroh mit einem roten Bande und mit blumigem Stoff gefüttert, der auf beiden Seiten leicht herabhängt, hinten und vorn aber leicht hinaufgezogen ist und dadurch eine Schiffsform erhält, dient dazu, sie drei und vier Körbe auf dem Kopfe festhalten zu lassen.

Die Frauen haben eine robuste Statur, sind hochgewachsen, das Gesicht aber, obgleich von gesunder Farbe, ist selten schön. Mit dreißig Jahren haben sie bereits von ihrer Frische verloren, ihre Haut wird fahl, was wohl am meisten die Nähe des Meeres und der Dünen zuzuschreiben ist.

Die Tracht der Männer hat wenig Charakteristisches: sie ist von finsterer Einfachheit. Der Grund ihres Charakters, der Männer wie der Frauen, ist das Unabhängigkeitsgefühl. Scheveningen liefert beinahe nie einen Dienstboten: junge Männer und Mädchen wollen nicht dienen. Arm, aber frei, erkennen sie keinen Herrn über sich an. So entziehen sich die jungen Männer auch auf jede Weise dem Militärdienst. Freiheit über Alles! Selbst in der Liebe schmiegt sich das Herz des Scheveningers nicht. Freundschaft und Liebe scheinen ihm überhaupt fast fremde Gefühle. Aber wie soll sich auch Liebe im Herzen des Jungen bilden, der sich von Kindheit mit denselben Mädchen im Sande gewälzt und früh hinaus aufs Meer an die wetterharte Arbeit muss, die keine Zerstreuung und Tändelei duldet. Das Meer ist seine Liebe. Seht nur den alten Fischer dort auf der Düne, der sich mühsam am Stabe fortschleppt, wie sehnsüchtig sein Blick auf den schäumenden Wogen ruht, und ihr werdet begreifen, dass sein Herz auf dem Meere ist, nicht zu Hause in der armseligen Fischerbaracke bei Weib und Kindern, wenn auch das Familienleben durch keine Untreue geschändet wird und am heimischen Herde Treue und Zucht herrscht, wie selten im Lande drinnen.

Des Weibes Beruf in Scheveningen ist der Verkauf der Fische, die die Boote heimgebracht und die sie in der Versteigerung erstanden. Das Erstandene wird in Körben aufgeschichtet und teils mit Hundekarren, teils von den Frauen selbst auf dem Kopfe nach dem Haag gebracht. Für den Erlös kaufen sie im Haag ihre Lebensmittel, und man begegnet ihnen in der prächtigen Ulmenallee, welche Haag mit Scheveningen verbindet, meist mit großen Broten und Holzscheiten, denn auf ihren Dünen wächst ja kein Splitter Holz. Aber die Nähe der Residenz hat auch ihr Gefährliches: denn der Sinn für das Naschen wird unwillkürlich dadurch geweckt; ein echtes Scheveninger Schifferweib verlässt die Stadt nie, ohne einen Teil des Erlöses in Kuchen und Leckereien vertan zu haben, ob die Kinder zu Hause hungern oder nicht. Deshalb steigern sie auch ihre Preise so ungeheuer, dass im Haag das Sprichwort geht:

„Von einem Juden, einem Chinesen und einem Scheveninger soll man nichts kaufen!“

001 Fischerweib von Scheveningen

001 Fischerweib von Scheveningen

Scheveningen, Strandleben

Scheveningen, Strandleben

Scheveningen, Fischerhafen

Scheveningen, Fischerhafen

Am 3. Februar 1598 strandete dieser 20 Meter lange Wal an der Küste zwischen Scheveningen und Katwijk

Am 3. Februar 1598 strandete dieser 20 Meter lange Wal an der Küste zwischen Scheveningen und Katwijk