Zu Haus.

Da sitz’ ich in meiner chambre garnie mit der Aussicht auf einen endlosen Tag. Es ist kaum elf und schon hab’ ich mein Frühstück samt allen vier Leitartikeln der Times zu mir genommen – was fang ich an?

Flieh! Auf! Hinaus ins weite Land!
Und dies geheimnisvolle Buch,
Von Mr. Blanchards eigner Hand,
Ist dir es nicht Geleit genug?


ruft mir der freundliche Leser zu und weist mit seinem Zeigefinger erst auf die Straße draußen und dann auf Adam’s pocket guide, der vor mir liegt, aber er weiß nicht, daß seit meinem letzten Schreiben die Wasser der Sündflut über London gekommen sind und daß nun schon seit vollen vier Tagen ein endlos niederströmender Regen alle Waterproofs und Gummigaloschen und selbst die Wißbegierde eines Touristen verspottet. Seit vier Tagen nicht aus dem Hause! Statt der dampfenden Roastbeef-Schüsseln des Mr. Simpson (gegenüber von Drury-Lane) bringt mir die Mittagsstunde nichts als ein Hammel-Kotelett aus der räuchrigen Küche meiner Wirtin, und an Stelle der Vernon-Galerie, die ich sonst wohl vormittags zu besuchen liebe, bietet mir die Kunst, wie zur Verhöhnung, nichts als einen schwarzen, lithographierten Steinadler, der an der Wand mir gegenüber unaufhörlich gen Himmel steigt und ein Kind in seinen Hängen mit sich schleppt. Die Mutter, mit gelöstem Haar und talergroßen Augen, ergibt sich der üblichen Verzweiflung. Auch jetzt starr’ ich wieder zu dieser eingerahmten Beilage eines Londoner Pfennig-Magazins in die Höh’ und gleichzeitig den Regen vernehmend, der draußen auf die Steine niederklatscht, ist es mir, als sei das Ganze eine bildliche Darstellung meiner eignen Situation und als trüge der Adler mein Glück und alle sonnigen Tage in die Wolken hinein.

Und doch ist Posttag heut, und doch erwartet Ihr einen Brief und kümmert Euch wenig darum, ob die ausgesandte Taube mit oder ohne Ölblatt heimgekehrt ist. So sei es denn; da aber niemand über sein Können hinaus verpflichtet ist, so begnügt Euch für heut mit einer Reminiszenz aus meinen Tagen in Flandern und laßt Euch erzählen

vom Beginenhof in Gent.

Gent ist ruhig! Die Arteveldes sind nicht mehr; Weber und Walker, die alten Todfeinde fassen jetzt grüßend an den Hut, statt sich, wie sonst, bei den Köpfen zu fassen; das Patriziertum ist abgetreten vom Schauplatz, seit Karl V. dreißig ihrer stolzen Nacken vom Henker beugen ließ, und die „tolle Grete“, das riesige Geschütz, wirft keine zentnerschweren Steine mehr aus ihrem Schlund, seit dieser selbst zur Zielscheibe für die Steine der Straßenjugend wurde. Die alte „Rebellenstadt“ heißt jetzt die „Blumenstadt“ und statt der goldnen Rittersporen des Kortrijktages zählt man nur noch die Arten des blauen Rittersporns. Gent ist ruhig!

Aber das ruhige Gent hat einen Fleck, der der allerruhigste ist– den Beginenhof. Wie bezeichn’ ich ihn? Kloster, Asyl, Spital – von allen dreien ist er etwas, ohne eines ausschließlich zu sein. Er wäre ein Kloster – aber die Eintretenden leisten kein Gelübde; er wäre ein Asyl – aber der Eintritt ist an Bedingungen, sogar sehr äußerlicher Natur geknüpft; er wäre ein Spital – aber Jugend und Schönheit wohnen in ihm neben der Hinfälligkeit des Alters. So müssen wir’s denn umschreiben, was es mit dem Beginenhof auf sich hat: es ist eine Frauen-Gemeinde, die zwanglos, unter Arbeit, Gebet, Waisen- und Krankenpflege ihre Tage verbringt; ein Städtchen innerhalb der Stadt, das eine der sechsundzwanzig Inseln, auf denen Gent, gleich einem nordischen Venedig, erbaut ist, für sich in Anspruch nimmt und durch Tor und Mauer den natürlichen Schutz noch gesteigert hat, den ihm diese Insellage gewährt. Der Beginenhof (la beguinage) hat eine Kirche, hat Straßen und Plätze, Klöster und Häuser und eine Bewohnerschaft von ohngefähr 700 Frauen. Die oberste Leitung führt eine unabsetzbare Oberin (la Superieure), der in den sechs oder sieben vorhandenen Couvents (wir werden gleich sehn, was darunter zu verstehen ist) eben so viele Sous-Superieures (die durch einmütige und begründete Opposition ihrer Untergebenen abgesetzt werden können) zur Seite stehen. Die „Couvents“ sind nur insoweit „Klöster“, als sie innerhalb eines hohen Mauer-Vierecks liegen und eine größere Genossenschaft umschließen; im übrigen würde man sie richtiger „Schul- und Prüfungshäuser“ nennen. In ihnen macht nämlich die Novize, überwacht von der „Mutter“ und den ältern „Schwestern“, eine mehrjährige Probezeit durch, und nur wenn ihre Führung untadelig gewesen, wird ihr nach dieser Frist die Übersiedlung in die eigentlichen Häuser des Beginenhofes gestattet. Diese sind ungemein klein, meist nur von zwei oder vier Personen bewohnt und ziehen sich in ziemlich langen, nicht allzu geraden Straßen die ganze Insel entlang. Sie stehen unter keiner unmittelbaren Kontrolle des „Couvents“ und der „Sous-Superieure“, entbehren aber auch des Reizes und jener Vorzüge, welche eine größere Gemeinschaft mit sich bringt.

Ich hatte Gelegenheit, in eines der „Klöster“ einzutreten. Ein altes Mütterchen öffnete auf unser Klopfen und ihr wohlwollendes Gesicht lachte zu uns hinauf, noch freundlicher fast als die Krokus und Veilchen, die ringsum aus den Gartenbeeten sprossen. Prächtig-rote Granatblüte überdeckte das Mauerspalier und steigerte den Eindruck der Frische und Freudigkeit. Wir traten ins Haus; das Empfangszimmer zur Rechten bot wenig Eigentümliches dar, außer der ziemlich guten Kopie eines Van-Dyckschen Bildes, die Kreuzigung Christi, die an so schlichtem Platze immerhin überraschen mochte; zur Linken aber, im Arbeitssaal, ging einem das Herz auf: da sah man zwölf alte Hände in stiller Tätigkeit, wie sie emsig spannen und strickten, zupften und nähten, je nachdem die Kraft und das Auge reichte, und nur einer schien noch fröhlicher als sie – der muntre Spatz, der Liebling des Hauses, der bald auf dem Spinnrad, bald auf dem Wollflock saß, und in gar nicht spatzenhafter Vornehmheit der Eintretenden kaum zu achten schien.

Das Interessanteste des Hauses indes waren: Küche und Speisezimmer. Die Beginen haben zwar einen gemeinschaftlichen Kochraum, doch ist jede gebunden, für ihre Beköstigung selbst Sorge zu tragen, und so gewahrten wir denn auch bei unserm Eintritt in die Küche eine lange Reihe von Eisenöfchen, noch kleiner, als unsere heimischen Kohlenbecken, an denen jung und alt stand, um nach Geschmack und Laune sich den Mittagstisch herzurichten. Ich lege hierauf Gewicht und erblicke in dieser Eigentümlichkeit nichts Zufälliges. Ganz abgesehen davon, daß ein Wechsel in der Arbeit Leib und Seele frisch erhält, so ist das sprichwörtlich gewordene „Schalten in Küche und Keller“ und die Lust, man könnte sagen die Bestimmung dazu, etwas echt Weibliches, und diesen Zug in vollem Maße gewürdigt zu haben, muß wie hundert anderes uns für den feinen Geist einnehmen, der die Gesetze und Regeln dieses Ordens schrieb.
Im Speisezimmer herrscht dieselbe Gesondertheit und verirrt sich bis ins Komische. So viel Schwestern nämlich, so viel Schränke, in denen jede einzelne ihren Miniatur-Haushalt: Messer und Gabel, Teller und Tischzeug in sorglicher Sauberkeit aufbewahrt. Diese Schränke, alle unmittelbar nebeneinander, öffnen um die Essenszeit ihre Türen im rechten Winkel und bilden dadurch eine fortlaufende Reihe von Nischen, jede ungefähr von der beschränkten Räumlichkeit eines preußischen Schilderhauses; –das unterste, schiebbare Brett des Schrankes wird vorgezogen und – der Tisch ist fertig. Die Begine nimmt in zellenhafter Abgeschiedenheit daran Platz. Man kann sich dabei des lustigen Gedankens nicht erwehren: das böse Gefühl etwa aufkeimenden Neides solle so viel wie möglich unterdrückt werden.

Die Beginen sind stolz auf ihren Orden, und als mein Begleiter, ein Rheinländer, der Sous-Superieure in schlechtem Französisch auseinanderzusetzen suchte, daß seine Schwester auch eine Begine sei (im Rheinland nennt man hie und da die Nonnen überhaupt Beginen), sah sie ihn scharf an, als wolle sie sagen: „Du lügst!“ und als sich schließlich das Mißverständnis aufklärte, lachte sie ganz eigentümlich-selbstbewußt und setzte uns dann in rapider Rede auseinander: „daß es mit den echten Beginen was auf sich habe“. Ich glaub’s ihr, nicht nach ihren Worten, aber nach dem, was ich gesehen. Was mir das Klostertum im allgemeinen so verleidet, das ist das Beten nach der Uhr, das Kommandieren einer Empfindung, die so frei sein muß, wie irgendeine, wenn sie Wert haben soll, das ist das Aufgehen – günstigsten Falles – in unfruchtbarer Betrachtung. Von alledem findet sich bei den Beginen nur das rechte Maß; es sind fromme Frauen, aber sie wähnen nicht, gearbeitet zu haben, wenn sie einen Tag hindurch gebetet und meinen vielmehr: Kinderzucht und Krankenpflege sei echtes Gebet vor Gott. Und wenn ein langes Leben ein Geschenk Gottes ist, das er denen gibt, die er liebt, so liebt er die Beginen, wie sie ihn lieben. Im Kloster befand sich ein rüstiges Mütterchen von 85 Jahren, die 64 Jahre lang in demselben Hause gelebt hatte. Sie sah nicht aus, als würde sie bald abberufen werden.

Wir schieden: die Alten knicksten, die Jungen kicherten, der Spatz selbst drehte den Kopf und entließ uns in Gnaden. Eine flüchtige halbe Stunde Aufenthalt – und doch schied ich wie von etwas Liebem. Der Beginenhof und sein Frieden lag hinter uns; wie empfing uns draußen die Welt? Trommelwirbel und Signalhörner! Belgische Voltigeurs marschierten vorüber, ein Kürassier-Regiment hinterdrein. Wir standen auf Flamands Boden – wer sagt uns, ob nicht noch einmal hier (wie bald vielleicht!) die Würfel der Entscheidung fallen; doch wie sie fallen mögen – Friede liegt über dem Beginenhof.

Noch immer regnet’s; aber sei es drum, der Abend ist da, und der Wind, der durch die Straßen fegt und die Gaslaternen fast erlöschen macht, spricht von zerstobenen Wolken und hellem Sonnenschein am kommenden Tag. Ich schließe die Fenstervorhänge und schütte frische Kohlen auf den Kamin. Hei, wie das prasselt und flammt. Gemütliche Wärme erfüllt das Zimmer, nur eines fehlt noch: der Teekessel und sein magischer Gesang. Da tritt Jane ein und setzt das riesige Brett auf den Tisch. „ Good evening sir! a bad day to day.“ Ich aber schneide mir Schnitte auf Schnitte von dem blendenden Weißbrot, röst’ es am Kohlenfeuer, und während der Duft des halbverkohlten Brotes das Zimmer würzt, gedenk’ ich Deutschlands und lausche dem singenden Kessel mir zur Seite, wie lieben, leisen Stimmen aus der Heimat.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Ein Sommer in London