Zahlen beweisen!

„Abwechslung hat den Reiz!“ Ich hatte in meinem letzten Briefe einen poetischen Anlauf genommen, komm ich drum heut mit – Zahlen. „Londres n’est plus une ville: C’est une province couverte de maisons!“ hat ein berühmter Franzose gesagt, und er hat Recht. Auf einem Flächenraum von 16 englischen Quadratmeilen erheben sich gegen 300.000 Häuser mit einer Gesamt-Einwohnerzahl von über 2 Millionen.*) Hierunter befinden sich 30.000 Schuhmacher, 24.000 Schneider, 4.000 Doktoren und Apotheker und 170.000 Dienstleute.

Von der Gesamt-Einwohnerschaft wohnen 350.000 auf der Südseite der Themse in Southwark und Lambeth; das eigentliche London, der fünfmal größere Teil, liegt nördlich. Die Verbindung zwischen beiden Stadtteilen wird – den Tunnel uneingerechnet – durch sieben Brücken bewerkstelligt, deren Bau zwischen 5 und 6 Millionen Pfd. St., also gegen 40 Millionen Taler gekostet hat.


Die Seele Londons ist der Handel. Eine Schöpfung dieses Handels und wiederum auch sein Erzeuger ist die Bank. Ihre Fonds (Assets) belaufen sich – mir liegt ein Bericht aus dem Jahre 1850 vor, und, wie ich vernehme, sind diese Zahlen nicht konstant – auf mehr als 42 Millionen Pfd. St.; übersteigen also die preußische Staats-Einnahme um das Dreifache. Ihre Verpflichtungen (liabilities) erreichen nicht voll die Höhe von 39 Millionen Pfd. St., worunter 20 Millionen Banknoten.

Der Handel selbst bietet folgende Zahlen: in den Londoner Hafen laufen alljährlich – eine Durchschnittszahl angenommen – 30.000 Schiffe ein, darunter 8.000 aus fremden Häfen und 22.000 englische Küstenfahrzeuge. Unter jenen 8.000, die den Weltverkehr Englands unterhalten, fahren wiederum 5.000 unter britischer Flagge; – die Zahl der fremdländischen Schiffe zusammengenommen beträgt nur 3.000, darunter (1849) 153 preußische und 351 deutsche.**)

Die jährlichen Londoner Zoll-Einkünfte belaufen sich auf über 11 Millionen Pfd. St. und erreichen genau die halbe Höhe der englischen Zoll-Einnahme (22 1/2 Millionen) überhaupt.

Das tägliche Brot für den Geist, Unterhaltung und Zerstreuung liefern Zeitungen und Briefe. Von den 84 Millionen Zeitungsbogen, die alljährlich in England gestempelt werden, kommen nah an 50 Millionen auf London selbst, und von den 163.000 Pfd. St., welche die Annoncen-Steuer einbringt, zahlt London allein 70.000 Pfd. St. Die Einnahme an Briefporto ist enorm: sie beträgt 880.000 Pfd. St. oder zirka 6 Millionen Taler.***)

Die leiblichen Bedürfnisse geben folgende Zahlen: London verbraucht in Küche und Kamin, in Werkstatt und Fabrik 3 1/2 Millionen Tons Kohlen. Aufgegessen werden jährlich: 240.000 Rinder, 1.700.000 Hammel, 28.000 Kälber, 35.000 Schweine und ein unbestimmbares Quantum von Speck und Schinken. Die Zahl des wilden und zahmen Geflügels, einschließlich Hasen und Kaninchen (von letzteren, die man bei uns verschmäht, werden 680.000 konsumiert) erreicht die Höhe von 4.024.400. Außer den Eiern, die England selbst liefert, werden noch weitere 75 Millionen verbraucht, die von Frankreich und Deutschland kommen. Mit welchen Gefühlen würde John Falstaff diese Zahlen überflogen haben! Und trotz seiner Vorliebe für Sekt hätt’ er mindestens gestutzt, von 170 Millionen Quart Porter und Ale zu hören, die jetzt jahraus jahrein in London getrunken werden. Es macht das für jeden 1/4 Quart täglich.

Wir kommen nun zu der Schattenseite des Bildes, zu Krankheit, Verbrechen und Tod. Die Verbrecherliste ist alt (vom Jahre 1838) und mangelhaft: 220 Diebe mit Gewalt (burglars and housebreakers), 5.000 gewöhnliche Diebe und 136 Bettelbrief-Betrüger. Der Prostitution (nach einer Zählung von 1850) sind 50.000 verfallen, darunter 5.000 Kinder unter 15 Jahren. – 853 mal brach in demselben Jahre Feuer aus. – Der Gesundheitszustand war in früheren Jahren trostlos; in dem Pestjahre 1665, wo sich die Bevölkerung Londons auf nicht volle 400.000 belief, starben nah an 69.000 Menschen, also von sechsen einer. Bis zu Anfang dieses Jahrhunderts starb jahraus jahrein von zwanzigen einer, also 5 Prozent der Bevölkerung. Erst in den letzten Dezennien hat sich dies Verhältnis günstiger gestaltet (25 von 1.000 oder 2 1/2 Prozent) und sogar günstiger als in manchen andern großen Städten, z.B. Paris, wo 33 von 1.000, also 3 1/2 Prozent sterben. Nichtsdestoweniger sind es alljährlich 50.000 (also ungefähr ein Potsdam), die auf den Kirchhof hinausgetragen werden. – Doch mögen ganze Städte aus dieser Stadt verschwinden, sie wächst und wächst, und ihre Größe eben wird zur Ursache immer neuen Wachstums. Die Riesenstädte des Altertums sind lange überflügelt; wann wird sie deren Schicksal teilen? Weit, weit! Nur „Cidher, der ewig junge“ wird Korn auf ihr wachsen oder Schiffe über sie hinfahren sehn. –

*) Die ungeheure Mehrzahl der englischen Häuser ist klein und entspricht nur unsern „Wohnungen“, deren wir bekanntlich oft zwanzig in einem Hause haben. Ein englisches Haus ist durchschnittlich von 7 Personen bewohnt, eine Zahl, deren Niedrigkeit neben dem Umstand, daß selten mehr als eine Familie in einem Hause lebt, auch darin ihren Grund findet, daß ganze Straßen der häuserreichcn City wohl benutzt, aber nicht bewohnt werden. Man kommt um 9 und geht um 6; die Einwohnerschaft eines solchen Hauses besteht oft nur aus einer alten Frau, die Briefe annimmt, Teppiche ausklopft und die Treppen kehrt. – Daher kommt es auch, daß alle City-Kirchen unbesucht sind, und daß in St. Paul z.B. vor leeren Bänken gepredigt wird.



**) Die preußischen Schiffe sind indes ungleich größer, so daß die Tonnenlast derselben (32000 Tons) mehr beträgt, als die der deutschen (28000 Tons) zusammengenommen.

***) Man darf hieraus indes nicht schließen, daß die Hälfte alles englischen Imports über London geschähe. Diese Zahlen stellen sich dadurch heraus, daß London zumeist hochbesteuerte Artikel, wie Tabak, Zucker, Kaffee, Tee und Wein bezieht, während Häfen wie Liverpool, Hull und Dundee überwiegend steuerfreie Artikel (Baumwolle, Wolle und Flachs) importieren. – An Ausfuhr-Handelist London bereits überflügelt: Hull exportiert, dem Wert nach, ebensoviel und Liverpool nahezu das Dreifache.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Ein Sommer in London