Von Hydepark-Corner bis London-Bridge.

Es ist Sonnabend nachmittag, die Sonne lacht so heiter nieder wie’s die dunstigen Straßen nur irgendwie gestatten, aber mir selber nimmt die Sonnenheiterkeit nichts von meiner irdischen Verstimmung und ich greife zu meinem letzten Erhebungs- und Zerstreuungsmittel, zu – einer Omnibusfahrt von Westend bis in die City.

Da kommt er schon mein alter Freund der Royal Blue, der zwischen Hydepark-Corner und der Londonbrücke läuft, und seinen höchsten Platz mit der doppelten Raschheit eines deutschen Turners und Londoner Pflastertreters erkletternd, rollt der Wagen in demselben Augenblick weiter, in dem er anhielt mich aufzunehmen. Ein Blick nach links in den Hydepark und rechts auf den Triumphbogen des alten Siegesherzogs! nun aber die Augen gradaus und hinein in das Treiben Piccadillys, dessen Pflaster wir jetzt geräuschlos hinunterfahren.


Die erste Hälfte Piccadillys gleicht einem Quai: zur Linken nur erheben sich Paläste und Häuser, rechts aber dehnt sich, einer Wasserfläche gleich, der Green-Park aus und labt das Auge durch seinen Rasen und die freie Aussicht zwischen den Bäumen hindurch. Ein leiser Wind weht herüber und nimmt auf Augenblicke dem Tage seine Schwüle; mir aber wird freier um die Stirn und unter Lächeln gedenk’ ich meines Heilmittels, das sich wieder zu bewähren scheint.

Weiter geht es, der Quai verengert sich zur Straße und verliert an Vornehmheit, schon aber biegt der coachman rechts in Regent-Street hinein, und die Zügel nachlassend geht es jetzt bergab und rascher denn bisher dem schönen Waterloo-Platze zu. Vor uns steigt die York-Säule auf; Carlton-House, der Sitz der preußischen Gesandtschaft, zeigt uns seine hohen Eckfenster; Palast neben Palast lagert sich vor unsern Blick, aber eh’ wir noch die Minerva-Statue auf einem derselben mit Sicherheit erkannt haben, wendet sich der Omnibus, links einbiegend, dem östlichen Ausläufer der Pall-Mall-Straße zu, und an Hotels, Kunstläden und Clubhäusern vorbei geht es dem eigentlichen Mittelpunkte Londons, dem Trafalgar-Square entgegen.

Da sind wir: die Fontänen tun das Ihre (freilich nur ein bescheidner Teil); der Sieger von Trafalgar schaut von seiner Kolonne herab; die National-Galerie zieht sich, als fühle sie die Schwächen ihrer Schönheit, bescheiden in den Hintergrund zurück, und von Northumberland-House hernieder grüßt uns der Wappenlöwe des Hauses, der mit gehobenem Schweif dort oben frei in Lüften steht und von den Percys, dem Löw engeschlechte Alt-Englands erzählt.
Immer weiter! Der Square liegt dicht hinter uns; das ist der „Strand“, der sein buntes Leben jetzt vor uns entfaltet. Er ist die Verbindungslinie zwischen Westend und der City, und der Charakter beider findet sich hier in raschem Wechsel nebeneinander. Neben den immer zahlreicher werdenden Läden und den Theatern zweiten Ranges erheben sich Paläste wie Kings-College und Somerset-House, und neben der Lady, die eben die Requiem-Probe oder das Oratorium in Exeter Hall verläßt, an dessen Aufführung sie sich mit gutem Willen und schwacher Stimme beteiligte, schreitet der Affichenträger, diese originelle Erfindung englischer Marktschreierei, wie ein wanderndes Schilderhäuschen einher, dessen papierne Wände nach allen vier Seiten hin ausschreien: „Feuerwerk in Cremorne-Gardens“, oder „Rasiermesser, scharf und billig, Ecke von Strand und Cecil-Street“.

Mein Auge hält sich rechts; kurze Querstraßen laufen zur Themse hin, mitunter blitzt der Strom selbst blau und schimmernd hindurch. Wie lacht mir das Herz! aber die nächste Nähe fesselt aufs neu das Auge: Häßliches und Blendendes, Alltägliches und Niegeschautes drängen sich mit Blitzesschnelle an uns vorüber. Hier zur Rechten scheinen die Dentisten ihr Quartier zu haben. An den Fenstern und Haustüren begegnen wir künstlichen, zierlich aus Elfenbein gedrechselten Totenköpfen, die sich gespenstisch im Kreise drehn und mit ihren grinsenden Mausezähnchen, ländlich sittlich, die Annonce übernehmen: hier wohnt ein Zahnarzt.

Weiter! der „Strand“ erweitert sich zu einem Kirchplatz, aber nur um sich plötzlich wieder zu verengen – und durch Temple Bar, das alte City-Tor hindurch, rollt jetzt unser Omnibus in Fleet-Street hinein. Was ist das? Tausende sperren an jener Ecke den Weg. „Weekly Dispatch“ oder „Illustrated News“, ich hab’ es vergessen welches von beiden, steht mit riesigen Buchstaben an der Front des belagerten Hauses. Was will man? hat sich der Redakteur gegen die Souveränität des Volkes vergangen ? hat er eine Brot-Taxe beantragt? nichts von dem allen. In Chester ist heut Wettrennen, das ist alles. Unablässig spielt der Telegraph von dort herüber und jede neue Meldung wird zu Nutz und Frommen des teilnahmvollen Publikums in großen Buchstaben sofort ans Fenster geklebt. Unerklärliche Begeisterung! Annes Volk ist’s, was sich da drängt, Tagelöhner die keine Geiß geschweige ein Pferd im Stalle haben, und doch will jeder wissen, was 50 Meilen nördlich in Chester geschieht und ob der „Lalla Rookh“ oder der „Wilberforce“ gewonnen hat.

Endlich sind wir hindurch; der Menschenknäuel schließt sich wieder, während wir Farringdon-Street durchschneiden und das ansteigende Ludgate-Hill in kürzerem Trab hinauffahren. Jetzt sind wir oben, unmittelbar vor uns steigt der Massenbau St. Pauls in die Luft. Seine Glocken beginnen eben zu tönen, um den Sonntag einzuläuten. Aber selbst die Stimme seiner Glocken wird überdröhnt und überrasselt, denn immer näher kommen wir der Handelswerkstatt der eigentlichen City und schon haben wir Cheapside rechts und links. Welche Läden das, welche Fülle, welcher Glanz! Alle Früchte des Südens, dazwischen die großen spanischen Trauben, liegen hochaufgeschichtet hinter den Spiegelscheiben der Schaufenster und ein Londoner Witzwort wird uns gegenwärtig, das da heißt: ein Franzose macht zwei Läden von dem, was ein Engländer ans Fenster stellt.

Und nun Poultry, und nun die Börse und die Bank! Von allen Seiten münden hier die Straßen ein, schon wird die Masse unentwirrbar und noch immer hat die City nicht ihr Letztes getan. Südlich geht’s, in King William-Street hinein und der Londonbrücke unter verdoppelten Peitschenschlägen zu. Da ist sie, oder doch da blinkt sie herüber, denn siehe, so nah am Ziel sind wir noch weitab von ihm. Es ist fünf Uhr und die City-Omnibusse haben sich eben angeschickt, alles was die Woche hindurch am Pulte stand und die Comtoir-Feder hinterm Ohre trug, nach den aberhundert Vorstädten und grünen Dörfern hinaus zu schaffen, die in einem weitem Kreise die Stadt umgeben und nach denen die City-Menschen sich sehnen, wie der Bergmann in seinem Schacht nach Gottes Sonne da oben. Hunderttausende wollen hinaus, in dieser Stunde, in dieser Minute noch, und selbst der London-Brücke und ihren Dimensionen versagen die Kräfte. Tausende von Fuhrwerken bilden einen Heerwurm; die lange Linie von King William-Street bis hinüber nach Southwark ist eine einzige Wagenburg und minutenlanger Stillstand tritt ein.

Ich spring herab, ich dränge mich durch; treppab komm ich an den Landungsplatz der Dampfschiffe, ich besteige das erste beste und wieder stromab fahrend, schau ich von der Mitte des Flusses her dem Drängen und Treiben zu, das auf der Brücke noch immer kein Ende nimmt. – Die Flut kommt und bringt eine luftige Brise mit, ich nehme den Hut ab und sauge die Kühlung ein. Mein Kopf brennt und fiebert, aber hin ist alle Verstimmung und mir selbst zum Trotz murmle ich vor mich hin: dies einzige London!

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Ein Sommer in London