Very, le Pays und die „Tönernen Füße“ Englands.

„Der größte Segen alles Reisens ist der, daß man sein Vaterland wieder lieben lernt“, sagte mal ein Franzos in der guten alten Zeit und ich glaube – er wußte was er sprach. Über wie vieles wetterte ich nicht, als ich noch das schmale Trottoir unserer Straßen trat (z.B. über eben die Schmalheit dieses Trottoirs) und was hab’ ich seitdem nicht alles lieben gelernt: Hofjäger und Frühkonzerte, Zeltenbier und Vossische Zeitung, Murmelspiel und Drachensteigen; aber eines mehr als alles. Dich warme Zufluchtsstätte erfrorner Chambregarnisten, Dich freundlichen Mann wenn alles scheel sieht, Dich barmherzigen Samariter, der, wenn wir „weiß“ befehlen, die warme Milch des Lebens in unsre Tassen gießt – Dich Spargnapani! Ach, ein süßer Heimwehschauer überläuft mich, so oft ich Deinen Namen spreche und wenn Dir nicht die Ohren geklungen, so klingen sie keinem mehr. Verschwenderischer fast als König Richard bot ich manchmal in verzweifelten Momenten: „Ganz London für Deine kleinste Tasse Kaffee!“ und wer das Übertreibung schilt, der komm und seh’ und seufze, und schüttle mir dann in schweigendem Einverständnis die Hand.

Es gibt auch hier Konditoreien, aber sie verdienen kaum den Namen. Weder die „Kuchenläden“, in denen der Engländer stehenden Fußes seine Stachelbeertorte verzehrt, noch die „Kaffeehäuser“, in denen er hinter seiner Zeitung wie hinter einem Bettschirm sitzt, haben irgend etwas von dem Zauber unsrer Konditoreien an sich, deren Reiz, nebst vielem andren, gewiß in der gleichmäßigen Pflege besteht, deren sich Körper und Geist in ihnen erfreun. Um der hunderttausend Fremden willen, die tagtäglich Londons Straßen durchfluten, haben sich natürlich wie „um einem tiefgekühlten Bedürfnis abzuhelfen“, auch hier Lokale aufgetan, die abweichen von der langweiligsteifen Kaffeehaussitte Alt-Englands; aber dem Deutschen ist wenig damit geholfen. Die Cafetiers in Regent-Street und Pall-Mall, in gründlicher und echtbritischer Verachtung alles Deutschen, haben es verschmäht, sich auch jenseits des Rheines nach Vorbildern umzutun und sind lediglich nach Paris gegangen, um mit einer vagen Vorstellung vom Palais-Royal und einem usurpierten Namen zurückzukehren. Sie nennen sich sämtlich „Very“ und haben auf diesen Ehrentitel ungefähr so viel Anspruch, wie jene Farinas, die sich zu Köln am Rheine so pfiffig, klug und weise um den alten echten Jean Maria herum gelagert haben.


Der absolute Wert dieser Prätendenten ist nur gering, ihr relativer desto größer. In London mögen sie immerhin als Rettungsinstitute betrachtet werden, ohne deren belebenden Sauerstoff der Fremde im Nebel der Langenweile ersticken müßte. Im Gegensatz zu der Stille und Einförmigkeit englischer Kaffeehäuser bieten sie wenigstens Leben, Auswahl und Mannigfaltigkeit, an Erfrischungen sowohl wie an Zeitungen und – Gesichtern. Zweimal des Tages wechseln diese Etablissements ihre Physiognomie total, und der Vormittag-Very sieht dem Very am Abend so unähnlich, wie eine Dame mit aufgewickelten Locken der blendenden Schönheit, die abends in den Ballsaal tritt. Wer mittags bei Very vorspricht, findet es leer. Am Büffet sitzt eine dicke Dame in schwarzem Camelotkleid und schwitzt unter der Last beständigen Nichtstuns; an verschiedenen Marmortischen aber gewahrt man bärtige Fremde: Polen, Franzosen und Italiener. Sie spielen Domino und – gähnen. Das ist mittags. Abends aber um die zehnte Stunde blitzt Very wie ein Feentempel. Dreißig Gasflammen machen die Nacht zum Tag; im Schaufenster plätschern die kleinen Kaskaden; Goldfischchen glitzern im Bassin; und aus und ein wie Göttinnen auf Wolken, schweben in ihren luftigen Baregekleidern die – vielgefeierten Schönheiten der Regentstraße. Ihre Tugend ist eine Klippe. Immer bang vor Verfolgung blicken sie um sich wie die gescheuchten Rehe und suchen Schutz unter deinem Arm. Ihr Anhänglichkeit ist rührend und ihre Macht ist groß. Sie sind Frau Venus und ich hörte von manchem Tannhäuser.

Mag sein, daß ich aus Furcht vor ihnen den Morgen-Very zu meinem Freunde erkoren habe; jedenfalls kann man mich dort, alltäglich um die zwölfte Stunde und so sicher wie die Uhr schlägt, die Worte sprechen hören: „Garcon, la Gazette de Cologne!“ Der Kellner, ein freundlicher Mensch, reicht sie mir vom nächsten Tisch. Heut aber fehlen der Kellner und die Kölnische Zeitung: und mich umschauend nach ausnahmsweiser Lektüre erblick ich das Pays, das neue kaiserliche Journal, und zieh’ es mit einem „Pardon!“ unter dem Ellenbogen eines knebelbärtigen, sein rechtes Bein in der linken Hand haltenden Dominospielers hervor.

Ich habe Glück; ein seltsamer Artikel fällt mir sofort ins Auge, dessen Inhalt ein Kratzfuß gegen Rußland, ein Achselzucken über Österreich und Preußen und schließlich ein vornehmes Lächeln über England ist. „England sei ein Koloß auf tönernen Füßen.“ Der Leser darf mich nicht verantwortlich machen für die Gemeinplätzigkeit dieser Wendung – sie ist eben Zitat. Auch wird die Form zur Nebensache bei der Wichtigkeit der Anklage selbst.

Steht England wirklich auf tönernen Füßen? Ich glaube „ja!“ aber es sind nicht die, von denen der Verfasser jenes Artikels spricht. Es ist weder der Katholizismus (der in der protestantischen Kraft eben dieses und vielleicht nur dieses Landes sein Gegengewicht findet), noch auch der Radikalismus (dessen Unbedeutendheit 1848 in geradezu lächerlicher Weise zutage trat), von woher dem Riesen England irgendwelche Gefahr droht, sondern – ums kurz machen – es ist das gelbe Fieber des Goldes, es ist das Verkauftsein aller Seelen an den Mammonsteufel, was nach meinem innigsten Dafürhalten die Axt an diesen stolzen Baum gelegt hat. Die Krankheit ist da und wühlt zerstörend wie ein Gift im Körper, aber unberechenbar ist es, wann die Verfaultheit sichtbarlich an die Oberfläche treten wird. England in äußere selbst unglückliche Kriege verwickelt, mag die roten Backen der Gesundheit noch ein Jahrhundert und drüber zur Schau tragen, aber das Lager von Boulogne in einer Nebelnacht zehn Meilen nördlich verpflanzt, und – der Goliath liegt am Boden. England gleicht den alten Teutonen mit ihren langen weitreichenden Lanzen: Sie beschrieben einen Kreis damit und wer an den Kreis kam, der war des Todes. Aber einmal keck in den Kreis hineingesprungen, so war die Lanze kein Schrecken mehr, sondern eine Last und das kurze römische Schwert fuhr tödlich zwischen die Rippen des Riesen. England ist ein Simson, aber erfaßt am eignen Herde sind ihm die Locken seiner Kraft genommen und einmal gedemütigt, würd’ es sich schwer zu neuem Mut erheben, jener starken Dogge ähnlich, die den Kampf selbst gegen den Schwächeren nicht wieder wagt, der sie einmal besiegt. Der Engländer flieht schwer; wenn er flieht, flieht er gründlich, und der Schrecken würde panisch sein wie zu den Zeiten der Jeanne d’Arc. Auf eignem Boden angegriffen war diese Insel immer schwach. Die Römer, die Sachsen, die Dänen, die Normannen, allen kostete es nur eine Schlacht, um sich zu Herren und Meistern des Landes zu machen, und um ein Beispiel auch aus neuerer Zeit zu geben: der letzte Stuart drang mit wenig mehr als zweitausend Hochländern bis in die Nähe des bereits zitternden und total verwirrten Londons vor. Hiesige Spießbürger (die immer noch die Waterloo-Schlacht allein gewonnen haben und von den Preußen weiter nichts wissen als deren Niederlage bei Ligny) schwatzen natürlich, als würden sie vorkommendenfalls jeder ein Palafox sein und die Tage von Saragossa vergleichsweise zu einem bloßen Puppenspiele machen, aber wir wissen’s besser und wissen recht gut, auf welchem Boden das Urbild zum Falstaff gewachsen ist. Ich habe in einem frühern Briefe von der Macht des englischen Nationalgefühls gesprochen und diese Macht ist da, aber die Klinge, die eine Eisenstange durchhaut, zerbricht umgekehrt wie Glas, und unter dem Schweiß dieses gelderjagenden Volkes rostet jene Klinge von Tag zu Tag und verliert ihren Zauber und ihre Kraft, unbemerkt aber sicher.*) Weder Volk noch Parlament, weder Adel noch Geistlichkeit beherrschen England, sondern die Herren in Liverpool und in der City von London. Der Handel hat zu allen Zeiten groß gemacht, aber auch klein: groß nach außen hin, aber klein im Herzen. Er kauft den Mut; er hat ihn nicht selbst – und hier liegt die Gefahr. Lübeck konnte Kriege führen mit Königreichen, aber selbst zu den Zeiten seiner höchsten Macht würden ein paar hundert dänische Söldner – mit Hilfe einer Überrumpelung mitten in die Stadt geführt – völlig ausgereicht haben, den ganzen stolzen Bau zu Fall zu bringen. Wenn keines Journalisten Blut jemals das Pflaster färbte, so sicherlich auch keines Kaufherrn. Der Handel hat nie größte Zwecke als sich selbst, und seine erste Bedingnis ist – die Ruhe. Ein Gewinn in Aussicht gestellt und die City von London geht mit jeder Dynastie.

Wende man mir nicht ein, daß ich mich um Dinge erhitze, die jenseits aller Möglichkeit lägen und daß es sei, als wollt’ ich die Welt mit Timur oder Dschingis-Khan ängstigen, die längst alles Zeitliche gesegnet haben. Die Welt hat die Tragödie gestürzter Hoheit zu allen Zeiten gesehn. Wer, als der königliche Weise von Sanssouci der bewunderte Stern Europas war und ganz Preußen dastand, stolz und aufrecht in dem Gefühl erfochtener Siege, wer hätte es damals möglich geglaubt, daß kaum ein Menschenalter später sieben lange Jahre hindurch die Eisenfaust eines fremden Eroberers auf eben diesem Lande ruhen werde? Die Rettungsstunde schlug, aufraffte sich die alte Kraft des Landes; und Bewunderung vor jenen Taten, die damals geschahn! Aber verhehlen wir uns nicht, daß auch andre Elemente vorhanden waren: Berliner Vollblut drängte sich danach, unter der Leibgarde Marschall Victors zu sein, und viele der Guten und Besten selbst träumten von einer Weltmonarchie. Die Rettungsstunde schlug, aber, Hand aufs Herz, der sie schlagen ließ war Gott selbst, und das Gegenteil lag nicht außer der Natur der Dinge. Was uns geschehen mochte, kann überall geschehn; denn ich bin weit ab davon, unser Volk niedriger zu stellen als irgendeins, das englische nicht ausgenommen.



*) Seit ich das Obige niederschrieb sind anderthalb Jahr vergangen. Die Ereignisse dieser letzten Wochen sind mir kein Beweis,, daß ich damals nur Gespenster gesehn und die Dinge trostloser geschildert hätte als sie seien. Und wenn die nächsten Tage die Nachricht brächten, daß Kronstadt oder Sebastopol ein Schutthaufen sei, wenn innerhalb der nächsten zehn Jahre Hinterindien und China zu britischen Provinzen würden, dennoch ist es wahr, daß die rätselhafte Geisterhand, die dem Belsazar erschien, auch diesem übermütigen England schon das Mene Tekel Upharsin an seine goldenen Wände geschrieben hat, und daß, wie ein Engländer selbst ahnungsvoll ausrief: „der Anfang vom Ende da ist“.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Ein Sommer in London