The Poets’ Corner.

„Sieg oder Tod“, so klingt es bei uns, wenn, Mann gegen Mann, die Schlachtenwürfel fallen; aber „victory or Westminster-Abbey!“ ruft Alt-England, wenn’s über die Enterbrücke hinweg zum Sturm auf die feindlichen Schiffe schreitet. Wie anders das! An die Stelle des Knochenmannes tritt sein glänzender Tempel und die Schlacht wird zu einem Spiel, drin jede Nummer gewinnt: – „Sieg oder – Ruhm.“

Es gibt ihrer viele (auch in England), die in Sachen des Ruhmes wie John Falstaff denken und von der Ehre sprechen: „sie ist kein Wundarzt“. Aber welcher Brite nur den schwächsten Ruhmeskeim im Herzen trägt, der muß ihn wachsen und gedeihen sehen, wenn er unter dem stolzen Marmor der Westminster-Abtei dahinschreitet und in dem steinernen Gedenkbuch blättert, das Volk und Land ihrer Größe errichtet haben. Wer er auch sein mag, dieser Tempel hat Raum für ihn: keiner, ob eines Bettlers oder eines Herzogs Kind, ist von der Mitbewerbung ausgeschlossen, und ob er ein Pitt sei, der von der Rednerbühne die Geschicke des Landes, oder ein Garrick, der von der Schaubühne herab die Empfindungen des Menschenherzens leitet – Westminster forscht nicht nach dem Weg zum Ruhme, es kennt keine Grade, keine Stufen, es kennt nur den Ruhm selbst.


Es sind so heiße Tage jetzt, und im Vorübergehen an dem alten Prachtwerk der englischen Baukunst lieb’ ich es einzutreten in das kirchenkühle Schiff, und mich satt zu trinken an jenem wunderbaren Blau, das ich Mal auf Mal aus den hohen glasbemalten Fenstern wie eine wirkliche Flut auf mich herniederströmen fühle. Laß uns einen Rundgang machen, Leser, erst durch das Schiff der Kirche, wo der Kriegsruhm seine Lieblinge gebettet, oder einen Gedenkstein zur Erinnerung an die weitab Gefallenen errichtet hat. Alle Punkte der Erde, alle Zonen, wohin britischer Unternehmungsgeist jemals vordrang und seine Eroberungen mit Blut besiegelte, klingen hier an unserem Ohr vorüber, und die Worte jenes spukhaften Liedes:

Und die in kaltem Norden
Erstarrt in Schnee und Eis
Und die in Welschland liegen,
Wo ihnen die Erde zu heiß...

werden an dieser Stelle lebendig in uns und steigern die Schauer des Orts. Wir haben den Hauptgang durchschritten. An der Kapelle Eduards des Bekenners vorüber, die neben dem Totenschrein des frommen Fürsten den schmucklosen Thron der englischen Könige beherbergt, eilen wir jetzt rascheren Fußes der Kapelle Heinrichs VII. zu, weniger um die Pracht des ganzen Baues, die phantastische Schönheit der Decke, oder gar die herniederhängenden Banner der englischen Ritterschaft zu bewundern, als vielmehr um rechts und links (zu beiden Seiten der eigentlichen Kapelle) die Marmorbildnisse jener königlichen Frauen zu betrachten, die jetzt, an einer Stelle fast, auf ihren Sarkophagen ruhen, während ihnen ganz England einst zu klein erschien, um beieinander Raum zu haben. Aus ihren Zügen spricht kein Haß mehr, nur Schönheit und Ruhe. Sie blicken uns nicht an wie aufgefaßt in ihrer Sterbestunde, von Alter und Tod jedes Reizes entkleidet, nein jene Elisabeth ist es, zu deren Füßen sich der Mantel Walter Raleighs breitete, und jene Maria, an deren Auge die Jugend Schottlands hing. Jakob I. bestattete beide hier, von denen ihm die eine den Thron, die andre das Leben gab.

Noch andere Plätze lieb’ ich im Fluge zu berühren (die Grabmäler James Watts und Wilberforces und Warren Hastings), aber das Ziel solchen Umgangs bleibt doch immer Poets’ Corner, der Poeten-Winkel, wo ich auf einer der hölzernen Kirchenbänke Platz nehmend, den Orgelklängen zu lauschen pflege, die während des Nachmittag-Gottesdienstes die Kirche durchbrausen. Dann ist mir’s oft, als belebe sich der Marmor um mich her, und als horche Händel von seinem Piedestal herab mit gespanntem Ohr und gehobenem Finger, und zähle die Takte und probe die Klänge – seines eigenen Chorals vielleicht. Die Orgel schweigt, nur ein Zittern geht noch durch die Luft, aber die Geister des Orts haben mich bereits in ihrem Bann, und wie Flüstern naher und ferner Stimmen summt es um mich her. Es winkt von hier und dort und zieht mich heran, näher und näher. Da lacht John Gay mich an, der Fabel- und Lustspieldichter, zu dessen Füßen Maske, Dolch und Flöte ruhen, und dessen selbstverfaßte Grabinschrift:

Eine Posse das Leben! so stellt sich’s dar; –
Einst hab’ ich’s geglaubt, nun seh’ ich’s klar.

den Mann gibt, wie er war: kurz und scharf, Epigramm und Satire. Da ist wenig Schritte von ihm Thomas Gray, der berühmte Verfasser der „Elegie auf einem Dorfkirchhof“, der Vorläufer und das Vorbild unseres Hölty und der schuldlose Vater jener Sentimentalität, die sich noch immer durch alle englische Kunst hindurchzieht und ihren krassesten Ausdruck in den Gesichtern der englischen Stahl- und Kupferstiche findet. – Zur Seite des Grayschen Bildes und deutungsreich ihn überragend steht Milton, der Dichter des Verlorenen Paradieses, und um die Leier ihm zu Füßen, anspielend auf sein unsterbliches Werk, windet sich die Schlange mit dem Apfel. Dryden schrieb die Inschrift in der elegant-pathetischen Weise seiner Zeit:

Homer und Dante – eurem Dichtertum
Gesellte Milton seinen größern Ruhm:
Des einen Schwung, des andern Majestät
In unserm Dichter beieinander steht.
Natur tat alles, des sie fähig war,
Als aus den zwei’n – den dritten sie gebar.

Da grüßen vielberühmte Namen noch, von Chaucer an, „dem Vater der englischen Dichtkunst“, bis nieder zu Robert Southey, dem letzten lorbeergekrönten Haupte, das Einzug hielt in den Poets’ Corner. Und zwischen diesem Anfangs- und Ausgangspunkt welche Reihenfolge glänzender Talente! Ben Jonson, mit der sprechenden Grabschrift: o rare Ben Jonson; Spenser, der Schöpfer jener Strophe, die unter Lord Byrons Meisterhand zu neuem Ruhme erstand; Samuel Butler, der Verfasser des Hudibras, dieses auf englischen Boden verpflanzten Don Quixote; und Oliver Goldsmith auch, dessen Pfarrer von Wakefield unser aller Jugendgefährte und der eiserne Bestand unserer Schulmappe war.

Aber vor allem sind es zwei Bildwerke doch, die immer wieder und wieder die Aufmerksamkeit unseres Auges erzwingen: Garrick und Shakespeare. Zu der Berühmtheit der Namen gesellt sich eine besondere Tüchtigkeit*) der Kunstwerke selbst. Eine faltenreiche Gardine nach beiden Seiten hin zurückschlagend, tritt der geniale Verkörperer Shakespeareschen Wortes hinter derselben hervor. Sinnig hält über seinem Haupte das Brustbild Shakespeares, wie eine Agraffe, die beiden Flügel des Vorhangs zusammen, und während die tiefere Idee der Darstellung auf ein Entschleiern, gleichsam ein Auseinanderschlagen der Shakespeareschen Schönheit hinausläuft, gibt der Bildhauer zu gleicher Zeit die einfachste und möglichst charakteristische Situation für die Vorführung eines dramatischen Künstlers überhaupt, in den Zügen des Kopfes paart sich das Geistvolle mit dem freundlich Wohlwollenden auf eine herzgewinnende Art, und die Worte am Piedestal lauten wie folgt:

Ein Zeichner der Natur – in seiner Hand
Den Zauberstift – kam Shakespeare in dies Land,
Doch seinen Ruhm verschwenderisch zu verbreiten
Trat Garrick auf; die Welt sah keinen zweiten.
Die Kunstgebilde, die der Dichter schuf,
Belebten neu sich auf des Mimen Ruf,
Und was in Schutt und Nacht begraben lag,
Es stieg in hell’rem Glanze an den Tag.
Drum bis die Ewigkeit einst, unbewegt,
Die Sterbestunde aller Stunden schlägt,
Soll wie ein Zwillings-Sternbild anzusehn
Shakespeare und Garrick uns zu Häupten stehn.

Schrägüber seinem Jünger und Apostel steht Shakespeare selbst in ganzer Figur. Er lehnt an einem Säulenabschnitt, der die Büste Elisabeths, als der Pflegerin seiner Kunst, und die Köpfe Heinrichs V. und Richards III., als hervorragender Gestalten seiner Dramen trägt. Shakespeare selbst, nach Sitte seiner Zeit gekleidet, mit vollem Bart um Mund und Kinn, schaut ohne den leisesten Zug jener espritvollen Heiterkeit auf uns hernieder, die den Kopf Garricks so augenfällig charakterisiert. Deutsch-tief, ruhig, fast träumerisch und nur angeflogen von jenem lachenden Humor, der doch zur Hälfte das Kind des Schmerzes ist, blickt dies Antlitz vor sich hin, und die Größe des Mannes erschließt sich uns, je mehr und mehr wir uns in dies träumerische Steinbild versenken. Kaum bedarf es einer Inschrift zum vollen Verständnis dieser Züge, aber es sind berühmte Worte (Worte Miltons), und ich gebe sie:

Mein Shakespeare Du, Dein heiliges Gebein,
Was braucht es Marmor und granitnen Stein?
Was brauchst Du Säulenschaft und Säulenknauf
Und Pyramiden bis zum Himmel auf?
Du Ruhmes Erb’ und der Erinnrung Kind,
Was brauchst Du Zeichen, die nur flüchtig sind?
In unsrer staunenden Bewunderung
Ersteht Dein Denkmal immer neu und jung,
Die Seele liest Dich mit entzücktem Bangen,
Wir werden selber marmorn im Empfangen,
Und unsre Herzen sind Dein Sarkophag,
Um den manch’ König Dich beneiden mag.

Ich habe die Worte niedergeschrieben; Orgelklänge durchbrausen aufs neue das Schiff der Kirche; der Nachmittag-Gottesdienst ist aus, und der kleinen Versammlung mich anschließend, die eben jetzt an mir vorüberhuscht, eile ich mit hinaus, über die hundert Grabsteine hinweg, die an der Nordseite von Westminster, Stein an Stein den Kirchhof bedecken. Ich habe nicht Zeit und Muße mehr bei ihren Inschriften zu verweilen, und aufatmend im hellen Sonnenlicht, dem ich vor einer Stunde geflissentlich entfloh, schreit’ ich jetzt dem nördlichen Gitter des Green-Parks zu, um, Platz nehmend auf einer jener hundert Bänke, das buntbewegte Leben Piccadillys wie einen endlosen Strom an mir vorüberziehen zu sehn. Welch’ Fluten! Zu Roß und zu Wagen jagt der schimmernde Glanz des Tages dahin; die lachende Schönheit, das beneidete Gold, die am Ruder befindliche Macht – aber wie reich sich dieses Leben erschließen mag, wie wenige gehören ihm an, die von der Hand des Todes nicht gleichzeitig hinweggewischt werden von der Tafel des menschlichen Gedächtnisses, und wer ist unter ihnen, dessen Marmorbild jene stille Ruhmeshalle beschreiten wird, die zwischen den Bäumen des Parks wie ein Nebelbild herüberschimmert?! –



*) Ich hörte diese Tüchtigkeit später bestreiten; doch konnten mich die gemachten Ausstellungen nicht überzeugen.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Ein Sommer in London