Out of Town.

August und September sind die „toten Monate“ (dead months) Londons. Der Fremde gerät dann in Verlegenheit mit seiner Zeit: Die National-Galerie wird geschlossen, die Vernon-Sammlung folgt dem Beispiel ihrer älteren Schwester, die Bibliothek staubt ihre 400.000 Bände aus (welche Wolke!) und wo du vorsprichst, bei Freunden und Bekannten, schallt dir auf deine stete Frage „master at home?“ die stereotype Antwort entgegen „out of town!“ Alte Praktiker unter den Fremden in London ersparen sich drum auch während dieser Monate die Mühe alles Klopfens und Klingelns, und schon auf fünfzig Schritte die Fenster der Bel-Etage musternd, entziffern sie aus jedem herabgelassenen Rouleau die September-Losung „out of town!“ Am geratensten freilich ist es, um diese Zeit sich alles Besuchemachens überhaupt zu enthalten, denn es gilt halb und halb als Beleidigung, während des Spätsommers irgendeinen Gentleman in seiner eigenen Wohnung vorauszusetzen. Ich kannte Familien, die den ganzen September über in ihren Hinterstuben saßen und die Front-Fenster des Hauses hermetisch verschlossen hielten, nur um die Nachbarschaft glauben zu machen, sie seien out of town.

War es herzliche Langeweile, oder war es das unklare Verlangen, „mit in der Mode zu sein“, was mich dem allgemeinen Zuge folgen ließ – gleichviel, ich sehnte mich plötzlich nach Seeluft, und der nächste Morgen schon sah mich in Brighton. Denn die Mode beherrscht uns mehr, als wir glauben. Selbst Professoren kennen etwas von jenem wunderbar erhebenden Gefühl, mit dem der gewöhnliche Mensch (auch ich) in den Ärmel eines neues Rockes fährt, und mancher langhaarige Dichter zog seine modischen Hackenstiefel mit Empfindungen an, als sei nun der Kothurn selber unter seinen Füßen. Ich wage die Behauptung: wer keine Glacéhandschuh trägt, hat entweder keine, oder versteht sie nicht zu tragen, und dem breiten Behagen der Unfeinheit gehen unwandelbar viele hundert gescheiterte Versuche voraus, sich auf dem Parkett des Lebens zu bewegen.


Brighton ist noch immer seit den Tagen der Regentschaft der fashionable Badeplatz der Aristokratie und die Konkurrenz von einem halben Dutzend nachbarlicher Parvenüs (Ramsgate, Margate usw.) hat seinen anererbten Ruhm wenig zu erschüttern gewußt. Noch immer wächst während der Saison die Einwohnerzahl um volle 30.000 und jene Leute zweiten und dritten Ranges, die erst anfangen die Mode mitzumachen, wenn sie längst aufgehört hat Mode zu sein, sichern diesem Platz, allen Launen der Fashion zum Trotz, noch eine Zukunft von fünfzig Jahren. Brighton ist schön. In einer Ausdehnung von nah einer deutschen Meile zieht sich der neuere Teil der Stadt, Palast neben Palast, halbkreisförmig an der Meeresküste entlang. Auf einem Hügel, im Rücken dieser Häuserreihe, erhebt sich das alte Brighton mit seinen krummen und schmalen Straßen, bis endlich das Auge auf einem grauroten, halb kastellartigen Normannenturm ausruht, der unwirsch in die fremde Welt hineinblickt. Nur eins wie immer – das Meer.

Um die Schönheit Brightons ganz zu genießen, muß man ins Meer hinausfahren, oder wenn man die Wellenwiege und deren Folgen scheut, sich wenigstens an das äußerste Geländer jener berühmten Hängebrücke lehnen, die unter dem Namen „Brighton-Pier“ viele hundert Schritte in die grünblaue See hinausläuft. Folge mir der Leser dorthin. Es ist Nachmittag, und auf dem letzten, aus vielen hundert Balken zusammengezimmerten Brückenpfeiler versammelte sich schon die schöne Welt, um dort den Liedern und Tänzen einer deutschen Kapelle mit Andacht zu lauschen. Ich sage „mit Andacht“, denn der gute Ruf deutscher Musik ist unausrottbar, und Befriedigung spiegelt sich bereits auf allen Gesichtern. Unser Ohr freilich hörte schon Beßres, aber landsmannschaftliche Rücksicht läßt uns die falschen Noten auf Rechnung des Windes setzen, der eben jetzt frisch und erquickend über Menschen und Klänge dahinfährt. Plätze sind nicht mehr frei, so ist uns denn die Signalkanone willkommen, die unbeachtet an der äußersten Spitze des Pfeilers steht, und auf ihr Platz nehmend, blicken wir jetzt, den Rücken fest ans Geländer gelehnt, über Menschen, Brücke und Brandung hinweg, bis hin auf den prächtigen Brighton-Quai, dessen durch Entfernung verkleinertes Treiben nun wie ein reizendes still bewegtes Camera-obscura-Bild vor uns liegt. Damen zu Pferde in schwarzem, wallendem Reithabit galoppieren vorüber, reizend gekleidete Kinder, in ihrer Ziegenbock-Equipage, fahren auf und ab, breitschultrige Fischergestalten mit Teerjacke und Krempenhut winden das heimkehrende Boot aus der Brandung ans sichre Ufer – Leben überall, aber das stille Leben eines Bildes: kein Mißklang unterbricht den Zauber, dem Aug’ und Seele hingegeben sind. Es geht dir durch den Kopf, als sei das Ohr der böse Sinn des Menschen, als wandelten Freude und Schmerz auf verschiedenen Wegen zum Herzen: durchs Auge die Freude, aber durchs Ohr der Schmerz.

Doch ach wie falsch! Horch auf, welche Klänge treffen nicht eben jetzt dein Ohr, und rütteln dich leise-freundlich wie liebe Hände aus deinem Traum!

„Übers Jahr, übers Jahr, wenn ich wiederkomm’,
Wiederkomm’,
Kehr’ ich ein, mein Schatz, bei dir.“

Dein Auge gleitet nicht länger mehr am fernen Ufer auf und ab; dicht vor dir, mit einem Anflug von Heimweh, betrachtest du die lieben deutschen Sommersproß-Gesichter und freust dich, daß der Wind jetzt leiser weht und die Wellen höher ihren weißen Schaum spritzen, als tanzten sie lustiger da unten denn zuvor.

Brighton ist schön, aber was ich soeben geschildert, ist auch sein Alles. Paläste wachsen auf dieser Kalksteinklippe, aber kein einziger Baum; das Meer schäumt donnernd an diese weißen, senkrechten Wände, aber kein Bach windet sich durchs Tal oder plätschert vom Hügel, und unterm Seewind sterben die spärlichen Blumen.

Brighton gleicht einem Hause voll lauter Prunkgemächern: wohin du blickst, Trumeaus und Draperien, parkettierter Boden und verzierte Kamine; dein bürgerliches Herz wird müde der Pracht und Herrlichkeit und sehnt sich wieder nach Ofen und Sorgenstuhl, die Sorgen selbst nicht ausgeschlossen.

Was einzig und allein dauernd dem Menschen genügt, ist nur immer wieder der Mensch. Nichts ermüdet schneller als die sogenannte „schöne Natur“; wie Guckkastenbilder müssen ihre Zauber wechseln, wenn man sie überhaupt ertragen soll. Acht Tage waren um, und schon stimmt’ ich aus voller Seele mit ein in das Lied meiner Landsleute:

„Führt denn gar kein Weg, führt denn gar kein Steg,
Hier aus diesem, diesem Tal hinaus.“

Rasch war ich entschlossen und der nächste Morgen sah mich auf dem Wege nach Hastings.

Hastings ist halber Weg zwischen Brighton und Dover. Die Eisenbahn, die beide Städte verbindet, führt erst ins Land hinein und zwar nach dem Burgflecken Lewes, der alten Grafschafts-Hauptstadt von Sussex. Das Städtchen ist nur interessant durch seine altertümliche Physiognomie, ein malerischer Reiz, dem man nirgends seltner begegnet als in England, wo die Städte alle hundert Jahre ihr Kleid wechseln und ihre Geschichte in Büchern und Balladen haben, aber nicht in Stein.

In Lewes den nächsten Zug abwarten zu müssen, wäre hart gewesen, wenn nicht der nahgelegene Flecken Ashburnham sich des Reisenden erbarmt und ihn zu einer Pilgerfahrt eingeladen hätte. Auch das Königtum hat seine Reliquien und die alte Kirche zu Ashburnham bewahrt deren, wie nur irgendein Fleck der Welt. Neugierig und zaudernd zugleich tritt der Fremde dort an ein mit rotem Sammet ausgelegtes Glaskästchen und sieht das blutbefleckte Grabtuch Karl Stuarts und jenes Hemd, das der Henker zurückstreifte, um Platz zu schaffen für die Schärfe seines Beils. Vor meine Seele trat wieder der kiesbestreute Hof von Whitehall, wo noch heute die Bildsäule König Jakobs mit ausgestrecktem Finger auf jene Stelle weist, an der das Haupt seines Vaters fiel, und es durchschauerte mich angesichts dieses Kästchens wie damals, wo ich zum ersten Male rasch und klopfenden Herzens, wie unter einem sausenden Windmühlflügel, unter dieser stillen Fingerspitze hindurchhuschte. Noch eine dritte Reliquie umschließt das Kästchen: jene mit Mosaik-Blumen ausgelegte Taschenuhr, auf der König Karl die Stunde seines Todes las und die er lächelnd dann jenem Lord Ashburnham reichte, der treu wie seine Ahnen alle mit aufs Schafott gestiegen war. Denn sie waren alle treu seit jenem Bertram, der Schloß Dover noch hielt, als Hastingsfeld längst eine abgespeiste Tafel war und dessen Haupt dem Normann erst huldigte, als es abgeschlagen zu den Füßen des Erobrers lag.

Von Lewes aus läuft die Eisenbahn wieder südlich der Küste zu und berührt sie unterhalb Schloß Pevensey, genau an jener Stelle, wo Wilhelm der Erobrer aus seinem Boot ans Ufer sprang und mit der Hand in den Sand fallend, voll Geistesgegenwart jene berühmten Worte sprach: „So faß’ und ergreif ich dich, Engeland.“ Hier in unmittelbarer Nähe der Küste sieht man auch die ersten Exemplare jener Armee von Wachttürmen, die sich wie eine steinerne Tirailleur-Linie und in einer Ausdehnung von mehr als fünfzig Meilen, an der Südküste entlang ziehn. Die Form dieser englischen Wachttürme ist genau die eines Puddings, nur sind sie nicht mit Rosinen gespickt. An der See hin, mit Lärm und Gerassel den Donner der Brandung begleitend, braust jetzt der Zug und endlich zwei mächtige Tunnel durchfliegend, hält er auf dem geräumigen doppelarmigen Bahnhof von Hastings. Brighton ist schön, aber Hastings ist schöner. In alten Zeiten war es der größte und reichste unter den sogenannten „Fünf-Häfen“. Diese Tage des Glanzes sind für immer dahin. Die Natur tat für Portsmouth und Southampton zu viel, als daß Hastings wieder werden könnte was es war. Dennoch hat es eine Zukunft, aber nicht als Hafen, sondern als Badeplatz. Seine Lage ist entzückend, und das kalte vornehme Brighton blickt mit einer Art Unruhe auf den heitren, rührigen Nachbar, wie der bange Hüter eines mühsam errungenen Ruhms auf die lachende Stirn des Jüngeren blickt, die ihm zuruft: „Dein Kranz ist mein.“ Hastings wächst von Jahr zu Jahr und mit Recht, denn die englische Südküste hat keinen schöneren Punkt. Ein mächtiger in die See vorspringender Fels teilt es in zwei Hälften: rechts, am Strande entlang, läuft der fashionable Teil der Stadt mit seinen Hotels und Palästen, am besten geschildert, wenn ich ihn Klein-Brighton nenne; linkshin zieht sich, ungleich malerischer denn jenes, das alte Hastings mit seinen Badekarren und Fischerhütten, die sich zum Teil unter die überhängenden Felsen kauern, deren groteske Häupter nun wie steinerne Wetterwolken über den Dächern dröhn.

Die Sonne ging unter, als ich auf knirschendem Kiessand und rechts vom Schaume des Meeres bespritzt an den letzten Ausläufern dieser Fischerstadt vorüberschritt. In ihren schwarzgeteerten Werkstätten, zweistöckigen Jahrmarktsbuden nicht unähnlich, saß hier das wetterbraune fleißige Volk, dessen Tagewerk die Gefahr ist und flickte die Netze und rüstete sich zum Fang. Aus der letzten Hütte scholl es wie ein frommes Lied, aber der Wind zerriß die Klänge und jetzt um einen Felsblock biegend, lagen Lied und Stadt weit hinter mir. Immer wilder wurde die Szene. Auf schmalem Streifen zwischen Fels und Meer kletterte ich jetzt über herabgestürzte Blöcke hinweg, die mir den Weg zu verbieten schienen; aber der Reiz wuchs mit dem Widerstand. Lustig im Winde flatterte mein Haar, in meine Seele setzte sich der Wind wie in ein schlaffes Segel, und mir ward wieder als könnt’ ich fliegen, und als wäre der Tag meiner Kindersehnsucht da: hinzufahren über die Welt. Plötzlich blendete mich ein Schein, ein Lichtstreif, der weit ins Meer hineinfiel. Ich blickte auf; in halber Höhe des senkrechten Felsens waren menschliche Wohnungen, wie Möwennester, in den Stein gehauen. Vergebens sucht’ ich eine Treppen Straße, die hinaufgeführt hätte, und nur ein mannsbreiter Gang lief, in Wahrheit eine Verbindungslinie, von Tür zu Tür. Aus einzelnen Fenstern, die mit Hilfe von Seetang in die Felsenlöcher gepaßt waren, schimmerte Licht; die letzte Höhle zur Linken aber schien das Clubhaus dieser seltsamen Kolonie zu sein. Dort schlug ein Reisigfeuer bis hoch an die Decke und um die flackernden Bündel hockten dunkle, wunderliche Gestalten, wie ein Indianer-Kriegsrat, oder wie die Geister dieses Berges.

Noch einmal ließ ich mein Auge hingleiten über den ganzen Zauber dieser Szene, dann aber bückte ich mich nach einer Muschel, die eben jetzt die Brandung vor meine Füße warf und nahm sie mit mir als Erinnerungszeichen an diesen Tag und an die weiße Klippe von Hastings.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Ein Sommer in London