Long Acre 27.

Von welcher Stelle Londons aus glaubst Du diese Zeilen zu erhalten? Gib es auf, die Antwort darauf zu finden. Und riefest Du von der Kuppel St. Pauls an bis in den letzten Winkel des Themsetunnels hinein, just an der Stelle würdest Du vorübergehn, von der aus ich mich anschicke, Dir diese Zeilen zu schreiben. Vernimm denn, ein Zufall hat sich meiner Neugier erbarmt und mich ohne Wissen und Wollen zu einem Mitbewohner der Flüchtlings-Herberge gemacht. Gestern z. B. bin ich ein Tischgenosse Willichs gewesen und schon mehrfach hatt’ ich die Ehre mit dem Grenadier Zinn eine längere Unterredung zu führen. Laß Dir erzählen, wie ich in die Höhle des Löwen gekommen bin.

Auf dem Steamer, kurze Zeit nachdem wir in die Themse eingefahren waren, trat ein blonder und rotbackiger junger Mann mit entschieden gutmütigem Gesicht an mich heran und äußerte den Wunsch, da ich des Englischen mächtiger zu sein schiene als er, mich seiner anzunehmen. Ich verbeugte mich und versprach zu tun, was in meinen Kräften stehe. So kamen wir einander näher, und noch eh’ der Steamer Londonbridge erreicht hatte, wußt’ ich aus dem überreichen Fluß seiner Rede, daß er ein Landwirt aus Hessen-Kassel sei und vor Übernahme eines väterlichen Gutes sich entschlossen habe, noch einen Ausflug nach London und Paris zu machen. Auf dem Zollamt (custom house), während unsere Koffer durchsucht wurden, richtete er die Frage an mich, ob ich bereits ein bestimmtes Unterkommen in der Stadt habe, und als ich wahrheitsgemäß diese Frage verneinte, empfahl er mir das german coffee house Long Acre 27, an das er brieflich empfohlen sei und das sich, wie er schon in Kassel gehört habe, durch Billigkeit und freundliches Entgegenkommen auszeichnen solle. Ich hatte keinen Grund, in die Stichhaltigkeit seiner Empfehlung den geringsten Zweifel zu setzen und da es begreiflicherweise was Verlockendes hat, seinen Einzug in das London-Labyrinth an der Seite eines Landsmanns zu halten, so schlug ich mit tausend Freuden ein, und vor Ablauf einer Viertelstunde rollte bereits unser gemeinschaftlicher Cab, an St. Paul vorbei, Ludgate-Hill und Fleet-Street hinunter.


Du magst Dir meinen Schreck denken, als endlich der Wagen hielt und gleich der erste Blick auf das german coffee house mich leise ahnen ließ, wohin das Schicksal in Gestalt meines hessenkasselschen Landwirts mich geführt hatte. Unsre Koffer wurden abgeladen und zwei Treppen hoch in das Fremdenzimmer gebracht. Zögernd folgt’ ich. Mit unverkennbaren Zeichen der Ungeduld durchschritt ich das Zimmer und endlich vor meinem Reisegefährten stehen bleibend, fragte ich mit einem Tone, der wenig Zweifel über meine äußerste Enttäuschung ließ: Sagen Sie, Bester, wo sind wir eigentlich? Der Angeredete geriet in sichtliche Verlegenheit und antwortete beinah stotternd: „Sie befinden sich im Flüchtlings-Hotel; wenn Ihnen der Aufenthalt darin, wie ich fast glauben muß, mißhagt, so bitt’ ich um Entschuldigung Sie hierher geführt zu haben.“ Diese Worte entwaffneten mich; als er aber schließlich gar versicherte, daß er selber ein andres Unterkommen gewählt haben würde, wenn ihm die leiseste Ahnung davon gekommen wäre, daß die Gastzimmer seines Freundes Schärtner im Stil einer pennsylvanischen Zelle hergerichtet seien, schwand auch die letzte Falte des Unmuts von meiner Stirn und ich beschloß so lange zu bleiben, bis es mir geglückt sein würde, in einem eleganteren Stadtteil eine paßliche Wohnung ausfindig zu machen. Das ist nun geschehn. Morgen zieh’ ich nach Burton-Street, in die unmittelbare Nähe von Eaton-Square; bevor ich aber dahin abgehe und dem deutschen Flüchtlings-Hôtel ein für allemal den Rücken kehre, kann ich nicht umhin, Dich mit der Festung und ihrer üblichen Besatzung bekannt zu machen.

Long Acre an und für sich ist eine der rußigsten Straßen in London, und Long Acre Numero siebenundzwanzig vermeidet es durch unzeitige Schönheit und Sauberkeit die Schornsteinfegerphysiognomie der ganzen Straße zu unterbrechen. Das Haus hat zwei Fenster Front und drei Stockwerke. Parterre befindet sich ein Ale- und Porter-Laden, wo eine Art Eckensteher-Publikum seine Pinte Bier trinkt, auch gelegentlich wohl sich bis zu Gin und Whisky versteigt. Die ganze erste Etage besteht aus einem einzigen, saalartigen, aber finstren Zimmer. Dem Fenster zunächst steht ein schwerer runder Tisch, darauf demokratische Zeitungen aus allen Weltgegenden– meist alte Exemplare – aufgespeichert liegen. An den Wänden entlang, in Form eines rechten Winkels, laufen zusammengerückte Tische, darauf in den Vormittagsstunden einige stehengebliebene Bierkrüge sich langweilig angucken, während hier am Abend die künftigen Präsidenten der einigen und unteilbaren deutschen Republik sich lagern und ihre Regierungsansichten zum besten geben. Ich führe Dich später in ihre Gesellschaft.

Zwei Treppen hoch teilen sich die Schlafgemächer des Hôtelwirts und das mehrerwähnte Fremdenzimmer in den vorhandenen Raum und von hier aus ist es, daß ich die Freude habe, Dir ein Bild der vielgefürchteten Flüchtlingswirtschaft zu entwerfen. Es gewährt mir eine gewisse Befriedigung, daß dieselbe Tischplatte, von der aus so manche Verwünschung dessen, was uns heilig gilt, in die Welt gegangen ist, nun meiner altpreußischen Loyalität als Unterlage dienen muß und es macht mich wenig irre, daß der Wind beständig an den alten klapprigen Fenstern rüttelt, als wollt’ er mir drohen oder mich mahnen: laß ab!

Ich habe nie ein ungemütlicheres Zimmer bewohnt; nur wer eben die Kasematten Magdeburgs hinter sich hat, mag sich hier verhältnismäßig wohl und heimisch fühlen. Der vielgerühmte englische Komfort ist durch einen Fetzen Teppich vertreten, der den Boden notdürftig bedeckt; kein Kamin, kein Fenstervorhang, kein Bild an den Wänden, mit Ausnahme einer grasgrünen, hier und da gelbdurchkreuzten Pinselei, dran die Inschrift prangt: „Plan des neuen Victoria-Parks“. Von Möbeln nur das notdürftigste: ein paar Wandschränke rechts und links, ein Klapptisch, drei Binsenstühle, und zwischen den Fenstern ein bleifarbner Spiegel, drin man noch trauriger aussieht, als diese Umgehung einen ohnehin schon macht. Vielleicht tu’ ich Unrecht, meinen Groll in dieser Weise auszulassen, da das german coffee house schwerlich beabsichtigt, unter den Hotels der Stadt genannt zu werden, aber das Unbehagen wägt nun mal die Worte nicht ab und ich friere so jämmerlich, wie man selbst in einer Ausspannung, und daß ich’s rund heraus sage, selbst in Long Acre 27 nicht frieren sollte.

Die Bewirtung ist erträglich genug; nur der Kellner, ein desertierter Soldat, der bei Iserlohn zu den Aufständischen überging, verdirbt einem durch seine Süffisance den Appetit. Sein Benehmen gegen die renommiertesten Gäste dieses Zirkels ist das eines Spital-Beamten, der armen Leuten einen Teller Suppe reicht. Nur wenige verstehn es, sich in Respekt zu setzen; der Rest wird tyrannisiert, im günstigsten Falle protegiert.

Gestern mittag aß ich in Gesellschaft von Schärtner, Heise, Willich, Zinn und einigen Diis minorum gentium. Ich hielt es für überflüssig oder gar unwürdig, aus dem bloßen Zufall, der mich in ihre Mitte geführt hatte, irgendein Hehl zu machen und bekannte mich freimütig zu Ansichten, die den ihrigen schnurstracks entgegen seien. Man respektierte diese Erklärung nicht nur, sondern zeigte auch, im Gespräch mit mir, eine Ruhe und Gemessenheit, die mich um so mehr frappierte, als sie den Streitenden, bei ihren Streitigkeiten unter einander, durchaus nicht eigen war. „Komm ich heran, der erste, den ich erschießen lasse bist Du“ zählte zu den oft und gern ausgespielten Bekräftigungs-Trümpfen.

Der gemütlichste Paladin der ganzen Tafelrunde ist unbedingt der Wirt selbst. Schärtner, dieser vor Zeiten vielbesprochne Führer des Hanauer Turner-Korps, hat längst den klugen Einfall gehabt, seinen unbrauchbar im Stall stehenden Republikanismus zur milchenden Kuh zu machen und lebt jetzt in vollster Behaglichkeit von dem unverwüstlichen Renommee eines längst aufgegebenen Prinzips. Er hat sich zum Eheherrn einer blassen Engländerin gemacht und unter reichlichem Verbrauch seines eignen Ales und Porters arrondiert er sich immer mehr und mehr zum vollen Gegensatz jener Cassius-Naturen, deren Magerkeit dem Caesar so bedenklich war.

Schärtners ganzer Radikalismus ist ein bloßer Zufall; in Stettin oder Danzig statt in Hanau geboren, wäre er der loyalste Weinhändler von der Welt geworden, und hätte am 15. Oktober die Toaste auf den König ausgebracht.

Anders verhält es sich mit Dr. Heise, einem ehemaligen Mitredakteur der „Hornisse“, der mein Tischnachbar war. Das stechende Auge, die etwas spitze Nase, dazu seine Redeweise, gleich scharf an Inhalt wie Ton der Stimme, sagen einem auf der Stelle, daß man es hier mit keinem Revolutionär aus Zufall, sondern mit einer jener negativen Naturen zu tun hat, deren Lust, wenn nicht gar deren Bestimmung das Zerstören ist. Ohne besonders viel zu sprechen, war er doch die Seele der Unterhaltung und gab das entscheidende Wort. – Neben ihm saß Willich, beredt sonst wie ich vernehme, aber schweigsam an diesem Abend. Man schätzt ihn allgemein, und doch zählt Achtung nicht eben zu den Dingen, mit denen die Bewohner von Long Acre 27 besonders verschwenderisch umgehn. Das Urteil über ihn lautet: verrannt, aber ehrlich.

War Willich schweigsam, so war Grenadier Zinn (jetzt Setzer in einer Buchdruckerei) desto muntrer. Als ich vor kaum einem halben Jahre von ihm las, hatt’ ich mir stets einen alten zopfigen Gefreiten, ich weiß nicht aus welchem Grunde vorgestellt. Wie war ich erstaunt, jetzt einen rotbackigen, kaum 24jährigen Springinsfeld vor mir zu sehn, der lachend von einem zum andern ging und das verzogne Kind der ganzen Versammlung zu sein schien. Keine Spur von Ernst in seinem ganzen Wesen, und wie sein Auftreten, so auch seine politische Tat. Sie besticht durch ihre Kühnheit, und bei dem Haß, den alle Welt gegen die Kasselsche Wirtschaft hegt, auch durch ihren Erfolg; in ihren Motiven aber ist sie klein. Mein Reisegefährte erzählte mir beim Zubettgehn, wie das blonde Grenadierchen es selber kaum leugne, daß die Lorbeeren des Carl Schurz ihn nicht hätten schlafen lassen und daß er den Dr. Kellner überwiegend nur deshalb befreit habe, um ein Seitenstück zu der Befreiung Kinkels zu liefern. Das ist ihm gelungen. Man darf Heldentaten nicht in der Nähe betrachten.

Das wäre das Offiziers-Korps der Besatzung von Long Acre 27; von den Gemeinen laß mich schweigen. In der Nacht vom Sonnabend auf Sonntag ist hier allwöchentlich ein großes Meeting. Dann gesellen sich die französischen Flüchtlinge zu den unsren, und bei Bier und Brandy wird die Brüderlichkeit beider Völker proklamiert und beschworen. Vorgestern nacht hörte ich den Jubel bis zum Morgen hin. Es war ein Lärmen ohnegleichen: deutsche und französische Lieder bunt durcheinander, dazwischen Gekreisch und Gefluch; mitunter flog eine Tür und man hörte Gepolter treppab; – ein wahres Höllentreiben!

Fragst Du mich noch, was ich von dieser Wirtschaft halte? Meine Darstellung des Erlebten ist zugleich eine Kritik. Das Ganze (eine einzelne Tüchtigkeit gern zugegeben) ist widerlich und lächerlich zugleich; bliebe noch Raum für ein drittes Gefühl, so wär’ es das des Mitleids. Da sitzen alltäglich diese blassen verkommenen Gestalten, abhängig von der Laune eines groben Kellners und der Stimmung ihrer englischen Wirtsleute daheim, da sitzen sie, sag’ ich, mit von Unglück und Leidenschaft gezeichneten Gesichtern und träumen von ihrer Zeit und haben für jeden Neueintretenden nur die eine Frage: regt sich’s? Geht es los? Dabei leuchtet ihr Auge momentan auf, und erlischt dann wieder wie ein Licht ohne Nahrung. – Ihr Regierungen aber, zum mindesten ihr deutschen Regierungen, tut ab die kindische Furcht vor einem hohlen Gespenst und besoldet nicht eine Armee von Augen, die dies Jammertreiben verfolgen und von jedem hingesprochnen Wort Bericht erstatten soll. Ihr verdientet zu fallen, wenn dieser Abhub euch je gefährlich werden könnte.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Ein Sommer in London