Abschnitt. 1

Die Welt liebt es, zu Gericht zu sitzen und – zu verurteilen. Da ist keiner unter uns, der nicht begierig wäre, der Themis seine Dienste aufzudrängen; aber wir sind bestechlich aus selbstischer Eitelkeit, wir werten unsere Tadelsucht zur Schuld des Angeklagten und handhaben das Schwert besser als die Waage. Da ist nichts so oft vergessen, als das Wort des Herrn: „Wer unter euch sich ohne Sünde weiß, der werfe den ersten Stein auf sie.“ Was tun wir? Den modegewordenen Mantel „sittlicher Entrüstung“ umschlagend, setzen wir uns auf unseren Hochmutsklepper und reiten erbarmungslos nieder, was uns kleiner dünkt (nicht ist) als wir selbst. – Die Presse macht so oft den öffentlichen Ankläger, mache sie auch mal den Verteidiger.

Es hat vierzig Jahre lang zum guten Ton gehört, von der Lady Hamilton wie von einer Messaline zu sprechen, deren traurige Lebensaufgabe darin bestanden habe, die Glorie Lord Nelsons zu verdunkeln, seiner Sonne – ihre Flecken zu geben. Es wird Zeit, diese Verurteilung auf ihr rechtes Maß zurückzuführen. Geniale Persönlichkeiten tragen ihren Maßstab in sich und wollen vor allen Dingen nicht mit der englischen Sittlichkeits-Elle (daran auch Shelley und Byron zu kurz befunden wurden) gemessen werden. Zudem hat noch immer die Strafe einen Teil der Schuld gesühnt.


Mir erhellt aus der nachstehenden Biographie, der zum Teil durchaus neue Papiere zugrunde gelegt sind, eine Rechtfertigung Lady Hamiltons schon aus dem einen Umstande, daß die Liebe und Verehrung Lord Nelsons zu ihr zweifellos zutage tritt. Ein Nelson konnte nichts Unwürdiges lieben. Nebenher aber geben diese Mitteilungen Aufschluß über den unberechenbaren und in solchem Umfange nicht geahnten Einfluß Lady Hamiltons am neapolitanischen Hofe; ein Einfluß, den sie in den kritischsten Momenten und unter Opfern und Gefahren zum Heile Englands geltend zu machen wußte. England hat ihr diese Liebe und diese Dienste schlecht gelohnt und der Leser mag vielleicht, gleich mir, das Gefühl nicht unterdrücken können, daß die größere Schuld – wie so oft – nicht aufseiten des Verklagten, sondern des Klägers liegt.

Lady Hamilton war die Tochter Henry Lyons, eines Handarbeiters, der zu Preston in Lancashire lebte. Ihre Geschichte hat den Roman auf seinem eigenen Felde geschlagen; ihr Leben liest sich wie eine Fabel. Ihr Vater starb während ihrer Kindheit; die Mutter zog nach Hawarden in Flintshire und ernährte sich und ihr Kind so gut sie konnte. Einige erzählen, die Tochter habe hier eine bessere Erziehung empfangen, als der Lage der Mutter nach zu erwarten gewesen wäre; nichts indes spricht für diese Annahme, wohl aber zeugt das dagegen, daß sie selbst in späteren Jahren und auf dem Gipfel ihres Ruhmes, alles eher verstand als – die Rechtschreibung. Sie wurde wahrscheinlich 1764 geboren, diente als Kindermädchen in ihrer Vaterstadt, ging dann nach London und trat dort, in gleicher Eigenschaft, in die Dienste des Dr. Budd, eines geschätzten Arztes am Bartholomäus-Hospital. Das Hausmädchen, das sie hier vorfand und mit der sie einen Freundschaftsbund schloß, wurde seltsamerweise kaum minder berühmt als sie selbst und glänzte jahrelang als die erste Schauspielerin (Mrs. Powell) des Drury-Lane-T’heaters. Oftmals später, während die Sonne Lady Hamiltons in Mittag stand und ihr Geist und ihre Schönheit gleich gefeiert wurden, liebte sie es an der Seite ihres Gemahls Drury-Lane zu besuchen, um einer glänzenden Vorstellung Mrs. Powells beizuwohnen. Die Aufmerksamkeit und Bewunderung des Hauses pflegte sich dann zwischen Bühne und Loge zu teilen, zwischen der berühmten Schauspielerin und – dem noch berühmteren Gast. Man wird die Geschichte der Haus- und Kindermädchen vergeblich nach einem Seitenstück durchsuchen.

Ihr Aufenthalt im Hause des Dr. Budd währte nicht lange; sie stieg zunächst noch eine Stufe tiefer und ward Schenkmädchen in einem vielbesuchten Lokal auf dem St. James-Markt. Hier erregte sie durch ihre Schönheit die Aufmerksamkeit einer zufällig vorübergehenden Dame, welche voll wachsender Teilnahme sich ihr näherte, sie aus dem Gasthaus entfernte und die Waise als eine Art Gesellschafterin zu sich nahm. Die Geschäfte des Hauses waren nicht groß, desto größer die gern bewilligte Muße; so finden wir denn Emma Lyon als begeisterte Romanleserin wieder, lesend mit jenem Eifer und jener Leidenschaft, die ihr eigenstes Wesen waren und womit sie, auch in spätem Jahren noch, alles erfaßte, was ihr überhaupt des Erfassens würdig schien. Die nächste Folge dieser andauernden Romanlektüre war die, daß ihre Phantasie stärker ward als ihre Tugend: sie fiel und ward die Geliebte eines Marine-Kapitäns, den sie indes nach wenigen Wochen schon gegen einen reichen und landbegüterten Baron vertauschte. Sie ward bald Meisterin in allen freien Künsten, in Reiten und Jagen, in Wettspiel und Hazard, und wußte auf alle exzentrischen Liebhabereien ihres Galans so gelehrig einzugehn, daß in Jahr und Tag der Baron ruiniert und statt anderer Gäste der Gerichtsbote an der Türe war. Emma Lyon kehrte von Sussex nach London zurück, und gebieterisch auf Erwerb angewiesen vermietete sie sich als Modell. Aber auch hier wie überall sicherten Schönheit und die Blitze eines immer reicher sich entfaltenden Geistes sie vor einem Wandel auf gewöhnlicher Heerstraße, und das käufliche Modell, das seine Reize jedem Künstlerauge und gelegentlich wohl auch profanen Blicken preisgab, stand vor dieser Männerschar nicht als eine verachtete und mißbrauchte Sklavin, sondern als huldvolle Gebieterin, und kein Finger wagte es sie zu berühren, wenn sie wie Laïs mit entblößtem Nacken vor die staunenden Augen eines Malerkreises trat und triumphierend ausrief: seht, wie schön ich bin!

Romney, einer der berühmtesten englischen Maler des vorigen Jahrhunderts, benutzte sie vielfach zu seinen besten Gemälden, und Hayley, ein Freund William Cowpers und selbst Poet, besang sie in Sonetten als das schönste Weib und den reichsten Geist seiner Zeit.

In diesem Künstlerkreise erregte sie alsbald die besondere Aufmerksamkeit des Mr. Francis Greville, der sehr reich und in Sachen des Geschmacks ein Held des Tages war. Emma Lyon ward seine Geliebte; doch als ob sie dazu bestimmt gewesen wäre, überall dem Bankerotte Tür und Tor zu öffnen, teilte Franz Greville binnen kurzem das Schicksal des Sussex-Barons, und war endlich noch froh, seinem Onkel Sir William Hamilton die kostspielige Geliebte überlassen zu können. Sir William ward Gesandter am neapolitanischen Hofe; Emma Lyon begleitete ihn.

Italien war der geeignete Schauplatz für die volle Entfaltung ihrer Fähigkeiten. Hier erwachte sie erst; hier war sie in der Heimat ihrer innersten Natur. Dieser milde südliche Himmel, der selbst im Ungeschick einen Rest von Grazie erweckt, ihrer Schönheit lieh er Üppigkeit und ihren schon reichen Geist ließ er überströmen von neuentdeckten Quellen. Über alles gebot sie, was ihren Reiz erhöhen oder ihre Kräfte steigern konnte; Luxus und Reichtum schütteten ihr Füllhorn über sie aus, und jede Regung des Talents, jeder künstlerische Trieb fand Vorschub und Befriedigung. Ihr Gesang, ihre Schauspielkunst reizten den Neid künstlerischer Berühmtheiten, und in der Tat, ein bloßes Stück Tuch oder Seidenzeug reichte aus, sie eine Jüdin oder römische Matrone, eine Helena, Penelope oder Aspasia darstellen zu lassen. Kein Charakter schien ihrer Seele fremd, und jeder, der nur einmal Gelegenheit fand, diesen Schaustellungen beizuwohnen, nahm das Gefühl mit nach Haus: die Grazie selbst gesehen zu haben. Der berühmte Shawltanz war ihre Erfindung, doch sein Reiz und sein Ruhm hafteten an ihrer Person, und was nach ihr sich Shawltanz nannte, hatte nichts als nur den Namen geborgt.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Ein Sommer in London