Hastingsfeld.

Es war mein letzter Tag in England! Das Dover-Boot sollte mich um Mitternacht nach Ostende führen; mir blieben noch zwölf Stunden zu einem Ausflug und ich entschied mich für – Hastingsfeld. Wie oft, in den Träumen meiner Kindheit, hatt’ ich die Kreideklippe gesehen, dran sich, laut Liedern und Sagen, das Rolandslied des Taillefer brach; wie oft hatt’ ich den Hügel erklommen, darauf das reiche, Juwel engestickte Banner König Haralds hoch in Lüften flatterte und wie oft war ich den Schritten jener gespenstisch-schönen Frau über das Leichenfeld gefolgt, von der’s im Liede heißt:

Es watete Edith Schwanenhals
Im Blute mit nackten Füßen;
Wie Pfeile aus ihrem stieren Aug’
Die forschenden Blicke schießen.


Mir schlug das Herz. Das romantische Land, wohin mich Sehnsucht und Phantasie so oft getragen hatten – es sollte jetzt wahr und wirklich vor meine Sinne treten.

Der Zug hielt. Zu meiner Überraschung blitzte weder Kreideklippe noch brandendes Meer vor mir auf; nur grünes Hügelland dehnte sich nach rechts und links, so weit das Auge reichte. Es war das Städtchen „Battle“, wo wir hielten, sieben englische Meilen landeinwärts.

Hier ward die Schlacht geschlagen, die ihren Hastings-Namen gewissermaßen mit Unrecht trägt. Der Kampf (battle), der hier tobte, gab dem Städtchen seinen Namen, ganz in derselben Weise, wie wir einen Flecken „Wahlstatt“ haben. Das Städtchen selbst bietet nichts Besonderes dar, außer seiner Abtei – „Battle-Abbey“ geheißen; dieser schritten wir zu. Als die Waage der Schlacht hin und her schwankte und an dem Trotz des Sachsenkönigs bereits der dritte Angriff gescheitert war, warf sich Herzog Wilhelm aufs Knie und mit lauter Stimme gelobend, „eine Abtei zu bauen, drin Wein wie Wasser fließen solle, falls Gott ihm Sieg verleihe“, führte er seine Truppen zum vierten Mal gegen das feindliche Verhau. Der Sieger hielt Wort. Battle-Abbey wurde die reichste Abtei des Landes, bis fünf Jahrhunderte später dem Geize Heinrichs VIII. auch diese Stiftung zum Opfer fiel.

Nur Andeutungen sind noch geblieben von dem Glanz und der Herrlichkeit, die königliche Munifizenz hier ins Leben rief, und dies wenige selbst würde zu Staub zerfallen sein, wenn nicht der Flugsand, der von der Küste herüberweht, die Überreste ehemaliger Kraft unter seinen Mantel genommen hätte, wie der Aschenregen des Vesuv die zum Märchen gewordene Welt Pompejis. Zwei Jahrhunderte vergingen seit jener Versandung. Was das Werk der Zerstörung zu vollenden schien, das gebot ihr Stillstand. Unsre Zeit, in ihrem Forschertrieb, hat das Begrabene neu ans Licht gezogen, zur Bewunderung zunächst, aber auch zu schnellerem Untergang.

Nur eines hat den Kampf mit den Jahrhunderten siegreich überdauert: das mächtige, sandsteingebaute Eingangstor. Mit breiten Flügeln und hohen Türmen steigt es vor dem Auge auf, selbst wieder ein Schloß, und läßt uns schließen auf die Größe und den Reichtum dessen, zu dem es nur die Pforte war. Sein Stil ist der normannische in seiner Blüte, als dieser sich bis zur Gotik zu erheben begann. Mächtige Bogenpfeiler bilden das Portal; aus ihren Rippen starren zwei steingehauene Fratzen hervor, wie die Sage geht: die Köpfe Wilhelms und König Haralds. Das Tor schließt sich hinter uns und wir befinden uns jetzt auf einem geräumigen, grasbewachsenen Platz. Zur Rechten ragt ein schlanker Turm in die Luft, starr, einsam, ein Finger aus dem Grabe vergangener Herrlichkeit. Zur Linken zieht sich ein stattliches Gebäude hin, im Stil der Königin Elisabeth; es ist das Herrenhaus, und zur Zeit Besitztum Sir Henry Websters. Hierhin richten wir unsre Schritte. Sir Henry ist außer Landes und der Zutritt für jedermann gestattet. Meine Gefährten, echte Londoner Spießbürger, wenden sich neugierig sofort nach links, in die Privatgemächer Sir Henrys, um mit jener dem englischen Philister eigentümlichen Neugier Parallelen zu ziehen zwischen dem Kanapee oder dem türkischen Teppich der Lady Webster und seinem eignen Hausrat daheim. Ich halte mich rechts und trete in die große Halle, die eigentliche Sehenswürdigkeit des Hauses. Hoch und geräumig, das Dach ein prächtiges Holzwerk, gleicht sie der schönen Banketthalle Heinrichs VIII. im Schlosse zu Hampton-Court, und wenn dort verblaßte Gobelins von rechts und links auf uns herniederschauen und unsre Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen, so ist es hier ein kolossales, die ganze Giebelwand der Halle bekleidendes Gemälde, das uns mächtig wie ein Altarbild entgegentritt und uns plötzlich wieder vergegenwärtigt wo wir sind.

Das ist die letzte Stunde des Hastings-Tages! Die Sachsenfahne liegt blutig und zerrissen im Staube; halb verdeckt von ihr haucht König Harald seinen letzten Seufzer aus. Zwei Reiter, gefolgt von der Blüte französischen Adels, sprengen auf den Sterbenden zu. Der eine auf langmähnigem Scheckentier, das weiße, vom Papste selbst geweihte Banner in Händen schwingend, ist Otto, Bischof von Baycux, der Halbbruder des Eroberers; der andre aber auf schwarzem, jetzt eben zurückprallendem Normannenhengst ist Herzog Wilhelm selbst. Die silberne Rüstung sticht wunderbar ab von dem blinkenden Schwarz seines Rosses, weithin wallt die weiße Feder von seinem hohen, konisch geformten Helm und um den Hals des Siegers schlingt sich eine dreifach umwundene Kette, daran eine goldne Kapsel blitzt. Was ist’s mit ihr? Ein Splitter vom Kreuze Christi liegt wohlverwahrt zwischen ihren Wänden; ein Splitter nur und doch die lebendige Wurzel, aus der dieser Kampf emporwuchs.

Zu Rouen war’s, zehn Jahre zuvor, im kerzenerleuchteten Dom. Der Adel der Normandie stand halbkreisförmig um den festlich geschmückten Altar, aber der Halbkreis wurde zum Spalier, als jetzt zwei Männer das Schiff der Kirche entlang und die Stufen des Altars hinanschritten. Der eine, kurzgeschoren das schwarze Haar, war Herzog Wilhelm; der andre mit langem Sachsenbart, war König Harald, damals noch Graf von Kent. Ihr Herz umschloß einen Wunsch: die Krone des kinderlosen Edward; – aber ein tückischer Schiffbruch hatte den Sachsengrafen in die Hand seines Nebenbuhlers gegeben und Herzog Wilhelm stand eben auf dem Punkt, die Gunst des Zufalls zu nützen. Harald sollte abschwören. Zögernd legte dieser die Linke auf die Decke des Altars und die Rechte zum Eid erhebend, rief er mit bebender Stimme: „So entsage ich denn allem Verlangen nach Herrschaft; Herzog Wilhelm sei König über England; noch einmal, ich schwör’s!“ Da zog der Normann die brokatne Decke vom Altar hinweg und dem Grafen einen Splitter zeigend, darauf seine Hand unwissentlich während des Schwurs geruht hatte, rief er: „Harald, du schwurst es bei diesem Span vom Kreuze Christi!“ Und seitdem? Der Tag kam, da König Edward in selbsterbauter Kapelle seinen letzten Schlummer hielt, Harald war König und hinüber nach Frankreich rief er: „Edward ist tot; England ist mein; nimm’s, so du kannst!“

Da wurde die Normandie zum Heerlager. Um seinen Nacken schlang Herzog Wilhelm die Kette samt der Kapsel, Papst Alexander weihte die Fahnen, König Harfager von Norwegen brach auf, als Bundesgenosse in England einzufallen und halb Frankreich wurde flott vor Lust nach Krieg und Abenteuern. Weiße Segel, zahllos wie die Wellen darauf sie tanzten, steuerten nordwärts und vor ihnen her flog, wie tödlicher Blitz, der Bannstrahl des Papstes.

König Harfager landete erst; sein Eifer war sein Tod. Harald umklammerte ihn bei Stamford-Bridge und zerdrückte ihn und sein Heer. Die Nacht brach ein. Auf dampfendem Schlachtfeld lagen die Sieger, berauscht von Wein und Gesang; im Zelt des Königs aber gingen Becher und Rede von Mund zu Mund und der Erzbischof von York erhob sich jetzt und rief: „Harald, so sei das Ende aller deiner Feinde!“ Da hielt ein Bote am Zelt und trat ein. Sein Haar war wirr und struppig vom langen Ritt, sein Kleid zerrissen und die Worte klangen:

Die Klippe von Hastings, wohl war sie steil,
Und das Meer, wohl hat es gebrandet,
Vergebens die Brandung, vergebens der Stein –
Herzog Wilhelm ist gelandet!

Auf sprang der König, sein Auge blitzte, sein Herz voll Sieg hatte nicht Raum für die Furcht. Gen London ging’s, sein Heer ihm nach; Zuversicht auf allen Gesichtern. Am fünften Tage war’s: aufblitzte die Themse – hinüber! und jetzt vor ihrem Aug die Ginsterheiden von Surrey – hindurch! am siebenten Tage aber hielt König Harald auf dem Hügellande von Sussex und sein Schwert in die Erde stoßend, rief er: „Hier sei’s!“ Herzog Wilhelm kam von Hastings heran. Auf zwei Hügeln, einander gegenüber, lagerten sich die Heere; zwischen ihnen ein breites, nicht allzu tiefes Tal. Hier sollte sich’s entscheiden.

Es war Nacht, die Wachfeuer der Normannen lohten herüber. König Harald ging von Zelt zu Zelt und ordnete an und befeuerte den Mut. Wo er sein Schwert in die Erde gestoßen hatte, da stand jetzt sein Zelt und neben demselben flatterte das große Banner von England. Es trug die alte Schlachten-Inschrift: „Siegen oder sterben!“ Dreitausend Freiwillige aus der Hauptstadt hatten sich drum geschart und feierlich geschworen, des Spruches über ihren Häuptern wohl eingedenk zu sein. Kundschafter kehrten zurück,

Die hatten den Herzog Wilhelm gesehn
Und täten ihn mannlich preisen:
Seine Rüstung sei wie Silber und Gold
Und sein Antlitz sei wie Eisen.
Seine Ritter aber die sähen darein,
Als wären sie schon verloren,
Sie hätten nicht Schnurr- nicht Backenbart,
Sei’n alle geschabt und geschoren.*)
Im ganzen Normannenlager sei
Nur Beten und Messesingen;
Das ganze Heer sei ein Priesterheer
Und man werd’ es leichtlich bezwingen
König Harald aber hörte sie an
In finstres Sinnen verloren,
Er sprach: Ich weiß, sie fechten wie wir,
Obwohl sie geschabt und geschoren.

Gegen Morgen kam ein Herold von Herzog Wilhelm, der bot dem König einen Zweikampf. Sie wollten den Streit in ihre beiden Schwerter legen und der Ausgang solle ein Gottesurteil sein. Da entfärbte sich der Sachsenkönig und Furcht und Scham liefen blaß und rot über sein Antlitz. Er kannte den Talisman seines Gegners, den sein Meineid ihm in die Hand gegeben hatte und murmelte vor sich hin: „Ich kann nicht!“ Laut aber rief er: „Nicht wir – die Schlacht!“

Aufblitzte die Sonne und zugleich mit ihren Strahlen flogen dreißigtausend Pfeile übers Feld. Die Sonne stieg und sank. Als sie scheidend noch einmal auf des Tages Arbeit blickte, da lag König Harald unterm Linnen seines Banners wie unterm Leichentuche und über das Blutfeld sprengte der Sieger. Sein Auge blitzte und die goldne Kapsel glühte blutrot im letzten Abendstrahl.

Ich sah auf; da hatt’ ich’s wieder vor mir, frisch, lebendig – das Scheckentier Bischof Ottos sprang wie aus dem Bilde heraus. Meine Betrachtungen wurden unterbrochen; ein alter Cicerone der Abtei trat an mich heran und erbot sich, mir das Schlachtfeld zu zeigen. Ich folgte ihm. Er führte mich zu einer der ausgegrabenen Ruinen, dem ehemaligen Refektorium der Mönche. Drei Seiten des Gebäudes stehen noch ziemlich wohlerhalten, die vierte aber ist völlig verfallen. Keine Spur von Dach. Man tritt in den mit Quaderstein gepflasterten Saal wie in einen Hofraum; – der blaue Himmel hing über uns. Keines Königs Munifizenz läßt hier noch fürder Wein wie Wasser fließen; der Regen wäscht den Mörtel aus dem Gestein und versucht die Kraft seiner Tropfen an der weißen Quadertenne des Saals. Der Alte führte mich schweigend an das mittlere Giebelfenster. Ich sah hinaus; aber ehe sich die bunte Landschaft vor mir zu einem klaren Bild gestalten konnte, richtete er die Spitze seines Fingers auf eben die Stelle wo ich stand und rief mir mit echtem Führer-Gleichmut zu: There fell the Saxonking! – Mich überlief es; er aber, völlig unbewußt des Eindrucks, den sein Wort auf mich gemacht hatte, streckte seine magere Hand durch die Fensterhöhle, und nach rechts und links eine Linie beschreibend, setzte er mit derselben Ruhe hinzu: And that’s the battle-field!

Da lag es vor mir mit dem ganzen Zauber einer englischen Landschaft. Drüben auf der höchsten Spitze jenes Hügels hielt Herzog Wilhelm während der Schlacht; jetzt schimmerte statt seiner Rüstung die weiße, sonnige Wand eines Bauernhofes herüber. Unmittelbar vor mir zogen sich schmale Teiche nach beiden Seiten hin das Tal hinunter; von Zeit zu Zeit sprang ein Fisch, gelockt von der Sonne, in den lachenden Tag hinein; nichts erinnerte mehr an jenen Tag, wo hier das Blut in tieferen Lachen als das Wasser in jenen Gräben stand. Tiefer Friede ringsum; nur das Glockenklingen weidender Kühe unterbrach die Stille. Kaum eine Saatkrähe ließ sich nieder auf dies Feld, wo einst das Krähen- und Rabenvolk von ganz England offne Tafel gehalten hatte. Noch einmal überflog mein Blick die Flur; dicht vor mir stieg ein Schwarm weißer Tauben in die Luft und wiegte sich im Sonnenschein, blitzend, als wären ihre Flügel von Licht. Lange sah ich hinauf: ein Friedens-Sinnbild über diesem Tal, so fand ich Hastingsfeld und so schied ich von ihm.

Wenige Stunden später trug mich der rasselnde Zug nach Dover. Es schlug Mitternacht als der Dampfer vom Ufer stieß. Ich stand am Steuerruder und sah rückwärts. Klippen rechts und links; Dover selbst, von tausend Lichtern funkelnd, wuchs amphitheatralisch in die Nacht hinein; der weiße Kalkstein schimmerte dahinter wie verschleiertes Mondlicht. Rascher schaufelten jetzt die Räder, höher spritzte der Schaum, eisiger ging der Wind – das letzte Licht erlosch. Nacht und Meer ringsum; hinter mir lagen Alt-England und – dieser Tag.



*) “They were all shaven and shorn“, aus einer alt-englischen Ballade

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Ein Sommer in London