Abschnitt. 3

Und stiller ward’s in Hampton-Court, bis die Braunschweiger kamen, die unberühmten George, die allen Ruhm dem Lande selber ließen. Die Widerspiegelung vergangener Zeit begann, und hier in eben dieser Wolsey-Halle dehnte sich der Hof der Königin Charlotte auf Plüsch- und Polstersitzen und klatschte Beifall, als von der Bühne herab Shakespeares Heinrich VIII. oder der Sturz Wolseys an ihrem lauschenden Ohr vorüberzog.

Doch lassen wir jetzt die Halle, um uns dem neueren Teil des Schlosses und seiner Bildergalerie zuzuwenden. Wir ersteigen eine schöne breite Treppe, freuen uns an den schlanken Ulanen-Gestalten, die, mit angefaßtem Karabiner, steif und stramm dastehen wie die Treppenpfeiler selbst, daran sie lehnen, und treten jetzt in den ersten jener Bildersäle ein, die in scheinbar endloser Reihe sich durch zwei Flügel des Palastes hindurch erstrecken.


Die Galerie von Hampton-Court hat keinen Weltruf wie die Dresdner, die Wiener und Versailler, der italienischen Schätze völlig zu geschweigen. Und in der Tat, wer lediglich von künstlerischem Interesse geleitet diese weiten Säle durchwandert, wird ziemlich unbefriedigt sie wieder verlassen und selbst der National-Galerie – deren drei Murillos sie ohnehin vor der Verurteilung retten – im stillen Abbitte tun. Aber ich mache kein Hehl daraus, daß ich Galerien gelegentlich auch in anderem Interesse durchwandere, als um den Schönheitslinien Raffaels nachzugehen, und welcher Hamptoncourt-Besucher gleich mir ein Gefühl für die englische Geschichte mitbringt, das an Lebhaftigkeit dem künstlerischen mindestens die Waage hält, der wird diese Zimmerreihen nicht ohne Erregung und Befriedigung durchschreiten können.

Es ist ein Revueabnehmen über die Träger der englischen Geschichte seit jener Zeit, die dieses Schloß entstehen sah. Die ersten Säle bieten wenig, bis plötzlich im dritten oder vierten das Auge durch eine Fülle von Porträt-Schönheiten wie geblendet wird. In oberster Reihe, zunächst der Decke, gewahrst du die schönen Buhlerinnen Karls II. und angesichts dieser lachenden Gesichter mit den koketten Ringellöckchen und den sinnlich aufgeworfenen Lippen, mildert sich dein Urteil über die Schwäche des liebenswürdigen Stuart. Je länger du verweilst, je mehr wirst du erschüttert in deinen festesten Grundsätzen, zumal wenn du zu Füßen jener verführerischen Weiber, in gleicher Höhe fast mit deinem Auge, die lachenden Porträts ihrer Söhne und Töchter gewahrst, zu deren angeborener Schönheit sich das durchgeistigende Bewußtsein gesellt: wir sind von königlichem Blut.

Weiter ziehen wir an Hunderten von Bildern aller Schulen gleichgültig vorüber, bis endlich der Hauptsaal der Galerie, schon durch seine Größe auffällig, sich vor uns auftut und uns verweilen macht. Ich möchte ihn den Holbein-Saal nennen. Mindestens 20-30 Stücke des alten Meisters finden sich hier vereinigt und die ganze Tudorzeit – der er angehörte – tritt an eben dieser Stelle in ihren Hauptgestalten uns sprechend entgegen. Da ist Heinrich VIII. (drei- oder viermal) und neben ihm – sein Narr; da ist Maria Tudor, reizlos und wie es scheint mit widerstrebender Hand gemalt; da ist Elisabeth, in einer ganzen Reihe von Blättern: als Kind, als Mädchen, als Königin, als Greisin selbst und zwischen inne in einem persischen Phantasie-Kostüm. Ich sah nie etwas Entsetzlicheres. Da grüßt uns mit hoher sprechender Stirn, über der eine turmhohe, abenteuerliche Frisur balanciert, die schöne Anna von Dänemark, die Gemahlin Jakobs I, jenes aufgeschwemmten Vielwissers, der eifersüchtig die Augen seiner Frau verfolgte, wenn sie, wie zur Erholung, ausruhten auf der Schönheit eines jungen Schotten-Lords. Ein rührendes Lied blieb uns aus jener Zeit, ein Lied vom hübschen Grafen Murray, der zur Unzeit seiner Königin gefiel und sterben mußte, weil er schöner war als König Jakob selbst. Das Lied ist alt und lautet so:


Ihr bunten Hochlands-Clane,
Was wäret ihr so fern?
Sie hätten nicht erschlagen
Lord Murray, euren Herrn!
Er kam von Spiel und Tanze,
Ritt singend durch die Schlucht, –
Sie haben ihn erschlagen
Aus Neid und Eifersucht. –

Im Lenze, ach, im Lenze –
Sie spielten Federball,
Lord Murrays stieg am höchsten
Und überflog sie all.
Im Sommer, ach, im Sommer –
Auszogen sie zum Strauß,
Da rief das Volk: Lord Murray
Sieht wie ein König aus.

Im Herbste, ach, im Herbste –
Zu Tanze ging es hin,
„Mit Murray will ich tanzen!“
Rief da die Königin.
Er kam von Spiel und Tanze,
Ritt singend durch die Schlucht, –
Sie haben ihn erschlagen
Aus Neid und Eifersucht. –
Ihr bunten Hochlands-Clane,
Was wäret ihr so fern?
Sie hätten nicht erschlagen
Lord Murray, euren Herrn!

Armer Lord Murray, arme Königin! Aber euer Leid erlischt vor einem größeren: dort aus schlichtem Rahmen heraus schaut, als weine sie im tiefsten Herzen, das blasse Antlitz Maria Stuarts. Und doch war sie noch halb ein Kind, als sie dem Maler zu diesem Bilde saß. Ein Klosterschleier umhüllt weiß und dicht das schmale, feine, geheimnisvolle Gesicht, das nichts hat von jugendlicher Heiterkeit, und es beschleicht uns der Gedanke, als fühle sie sich unheimlich unter diesen Elisabethköpfen, die von allen Seiten her auf sie herniederblicken.

Noch weitere Säle folgen, aber unser Interesse hat seinen Höhepunkt erreicht und selbst ein Pastellbild „des alten Fritz“, der aus einer Gesellschaft reifröckiger Prinzessinnen heraus uns mit seinem klaren Königsauge grüßt und unser preußisches Gefühl erwachen macht, fesselt uns nur auf Augenblicke. Gleichgültig an mutmaßlichen Raffaels (wo gab’ es deren nicht!) und noch mutmaßlicheren Michelangelos vorübereilend, erreichen wir aufs neue die breite Aufgangstreppe, deren Ulan noch immer wie in Stein gehauen dasteht und die teppichbedeckten Stufen schnell herniedergleitend, atmen wir auf, als nach der Schwüle, die uns von Saal zu Saal begleitete, jetzt plötzlich die frische Parkluft unsre Stirne kühlt und statt einer endlosen Reihe von Bildern jenes eine vor uns hintritt, das immer wieder mit seinem Zauber uns beschleicht.

Schnell durchflog ich die Gänge, von jenem Kraftgefühl beherrscht, das in der letzten Stunde eines Galeriebesuchs der Herr über alle anderen zu werden pflegt – vom Hunger.

Fünf Stunden waren seit jenem feierlichen Augenblick vergangen, wo Mr. Taylors erster Champagnerpfropf in die Luft paffte, und als ich so hin und her irrte, wandelte mich plötzlich wie ein Gespenst der Gedanke an: wenn du zu spät kämst, wenn alles vorüber wäre! Da weckten mich Stimmen und munteres Gelächter aus meiner finsteren Betrachtung und um mich blickend, gewahrt’ ich unter einem Kastanienbaum meine gesamte Begleiterschaft: die beiden Gentlemen stehend und schwatzend, die Ladies ins Gras gelagert und Kränze flechtend. Miß Harper warf mir den ihren zu und lachend fing ich ihn, wie einen Reifen beim Reifenspiel, mit meinem vorgestreckten Arme auf. „Ich glaubte, Sie hätten uns vergessen“, rief sie schelmisch unter ihrem Hut hervor, und sah mich an als wisse sie’s doch am besten, daß keines Mannes Auge ihrer Lieblichkeit jemals vergessen könne. Dann erhob sich alles – gesunder Appetit umschlang uns mit einem Eintrachtsbande – und dem Boote zueilend, glitten wir in der nächsten Minute schon quer über den Strom hin an das jenseitige Ufer, wo eine prächtige, nach allen Seiten hin von Weidengebüsch umgrenzte Wiese wie geschaffen war für ein lustig verschwiegenes Diner. Eine Koppel Pferde, die im ersten Augenblick halb stutzig halb neugierig die ungeladenen Gäste empfing, machte bald den bescheidenen Wirt und überließ uns das Terrain. Wir aber hatten bereits den Stamm einer mächtigen alten Rüster zu unserm Lagerplatze ausersehen und eh eine Viertelstunde um war, breitete sich auf dem Rasen vor unsern bewundernden Augen eine wohlgedeckte Tafel aus. Reizend stach das weiße Linnen von dem saftigen Grün des Rasens ab, aber reizender noch schimmerte die gelbe Kruste einer kolossalen Hühnerpastete, die von den kunstgeübten Händen der alten Mistreß May gebacken, den gebührenden Platz in der Mitte der Tafel einnahm. An den vier Zipfeln des Tischtuchs schimmerten abwechselnd die Stanniolkuppen Mr. Taylors und die geschliffenen, portweingefüllten Karaffen, die Mr. Owen und ich selber als Picknick-Kontingent gestellt hatten; am linken und rechten Flügel der Riesenpastete aber lagen in schlichter Brotgestalt die Gaben der Miß Harper: zwei Königskuchen, deren kleine Rosinen zahllos wie die Sterne am Himmel lachten. So war das Mahl; drum herum aber, auf den umgestürzten Kisten und Körben, saßen sieben lachende Menschen und dankten in kindlicher Fröhlichkeit dem Geber aller Dinge. Der Portwein war längst hin und die Hühnerpastete nur noch eine Ruine, da ergriff ich ein volles Glas Champagner, und mich hoch aufrichtend, schloß ich die Mahlzeit mit jenem Toaste, der von Herzen kommend, in britischen Herzen noch immer sein Echo fand: Old-England for ever!

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Ein Sommer in London