Die Middlesex-Wahl.

Die Wahlen in London waren vorüber und meine Erwartungen – getäuscht. Ich hatte nicht eben auf Krawall und Zusammenrottung, oder gar ein Revolutiönchen nach der Mode gerechnet, aber doch auf eine allgemeine und sichtbare Beteiligung der Bevölkerung, auf eine veränderte Physiognomie der Stadt und ihres Treibens. Nichts von dem allen traf ein. Hier und dort ein Riesenplakat in bunten Lettern; auf den Märkten und Plätzen eine Votierbude; in den Bierhäusern vermehrte Konsumtion von Porter und Ale; an den Straßenecken ein Austernhändler, der seinen stummen Meerbewohnern ein „votiere für X oder Y“ auf die Schale geklebt hatte; sonst nichts als schlaff herabhängende Fahnen, die darüber nachzudenken schienen, was langweiliger sei: diese Wahl oder ihre eigene Bestimmung. Keine Teilnahme, kein gesteigertes Leben, kein Abweichen von dem ausgefahrenen Gleise täglichen Verkehrs. Punkt 9 Uhr wie immer fuhren die City-Kommis im dichtbesetzten Omnibus die Oxfordstraße entlang; Punkt 1 Uhr wie immer zogen die Horse-Guards auf Wache; im James-Park so viel Kindermädchen wie sonst, im Hyde-Park so viel Ladies zu Pferde wie immer; ja selbst am Büchertisch meines Nachbars, des Straßen-Antiquars, fehlte kein teures Haupt und die „lieben alten Gesichter“ blätterten so emsig in den vergilbten Scharteken von „Bothwell, der Königsmörder“, oder „die Kunst, von jeder Frau geliebt zu werden“, umher, als wäre ihnen der Sieg von Whig oder Tory so gleichgültig, wie der Sturz oder die Ernennung eines chinesischen Mandarinen.

Das Schauspiel einer englischen Wahl wird nur noch in kleinen Provinzial-Städten aufgeführt, wo es, wenigstens auf Tage, möglich ist, der ganzen Bevölkerung eine gemeinschaftliche Richtung zu geben und wo das Wahlfeuer noch nicht auf jene eisige Apathie millionenfachen Unglücks oder doch unvereinbarer Interessen stößt, die die Flamme dämpft, statt sich von ihr entzünden zu lassen. Wer in London lebt der wähle Brentford, wenn er das Bild einer englischen Wahl mit in die Heimat nehmen will; er findet da noch die gute alte Zeit mit ihrem Reiz und ihrem – Unsinn.


Brentford, kaum eine deutsche Meile von London entfernt, ist der alte Sammelplatz, der Wähler von Middlesex, und die Hauptstadt jener kleinen Grafschaft, die sich in schmalem Streifen um die Riesenstadt herumlegt, wie ein wertloser Ring um einen Edelstein, den die Erde zu arm ist, mit ihrem Golde aufzuwiegen. Middlesex schickt zwei Vertreter ins Parlament, seit Jahren dieselben Namen: Lord Grosvenor und Mr. Osborne; jener ein Whig aus der alten Schule, energisch nur in seiner Feindschaft gegen alles, was Tory heißt – dieser ein Freund und Geistesverwandter des alten Radikalen Hume, des „Vaters der Reformbill“. Lord Grosvenor und Mr. Osborne waren auch diesmal wieder gewählt, der letztere jedoch mit einer kaum nennenswerten Majorität. Vielfach während der Zählung hatte sich die Waage zugunsten seines Nebenbuhlers, des Marquis von Blandford, eines eifrigen Derbyiten und früheren Vertreters von Woodstock geneigt, und nur die Anhänglichkeit des Städtchens Brentford selbst hatte schließlich die Wiederwahl des „Volksmannes“ gesichert. Die Zählung war vorüber und das Resultat gekannt, aber die amtliche Verkündigung desselben durch den Grafschafts-Sheriff, in goldener Kette und Galanterie-Degen, stand noch bevor. Heute war der Tag, 12 Uhr die festgesetzte Stunde und – das Volk geladen. „Lord Grosvenor und Mr. Osborne werden die Ehre haben, der Bevölkerung von Middlesex aufzuwarten (they will attend)“ – so lautete die Schlußversicherung in vielen hundert Plakaten. Möglich daß das Wort im Englischen eine mildere Bedeutung hat („erwarten“ vielleicht), nichtsdestoweniger ist es ein „Aufwarten“ der Sache nach, ein entschiednes „Aufwarten“, insofern der Gewählte durch Sitte oder Gesetz verpflichtet ist, auf die oft dümmsten Fragen eines bunt zusammengewürfelten Haufens Red’ und Antwort zu stehn. Das Ganze ist ein so prächtiges Stück von Volkssouveränität, wie es nur irgendwie und wo gewünscht werden kann.

Es geht ein Omnibus nach Brentford. So lange wir London und seine Vorstädte noch zu beiden Seiten hatten, rang das politische Treiben vergeblich nach Geltendmachung; die Hochflut des Londoner Lebens, sein Handel und Wandel schlugen darüber zusammen und begruben es. Kaum aber, daß wir die „Stadt“ im Rücken hatten, so trat ans Licht, was eben noch überwuchert war und hundert Zeichen deuteten auf den Kampf, der sich in Brentford vorbereitete. Die Chaussee, auf der wir dahin rollten, glich wirklich einer Heerstraße. Anhänger beider Parteien, die einen mit blau-rot-weißen Bändern am Hut, die andern mit blau-gelb-grünen Schleifen im Knopfloch, galoppierten wie diensttuende Adjutanten an uns vorüber; neue Truppenmassen, mit Musik an der Spitze und bei jedem Bierhause zum Weitermarsch sich stärkend, wurden von rechts und links ins Feuer geführt; Marketenderinnen mit ihrem Karrenkram saßen unter Ahorn- und Ulmenbäumen, schlechtes Bier, aber guten Schatten feilbietend, und Maueranschläge zu beiden Seiten des Weges (denn die Häuserreihe reißt nicht ab) starrten sich wie feindliche Herolde einander an und sagten sich Dinge, die den Schimpfern und Helden vor Troja alle Ehre gemacht haben würden.

Doch das alles war Vorspiel. Das eigentliche Stück begann erst, als wir in Brentford einfuhren, und wenn gewisse Dramatiker Recht haben, die da meinen, „ein gutes Schauspiel müsse mit einer guten Dekoration beginnen“, so ist kein Zweifel darüber, daß die Brentforder zu den Bühnen-praktischen Leuten zählen. Das war nicht mehr die verräucherte Fabrikstadt, das war ein Lauberhüttenfest. Wie bei uns um Pfingsten, wenn halbe Birkenwälder in unsre Dörfer wandern und selbst der Lehmhütte ein festlich grünes Kleid antun, so war das rußige Brentford jetzt ein märchenhaft geputztes Aschenbrödel geworden: es war auch zum Weidenbaum gegangen, aber der Baum brauchte sich nicht aufzutun, aller Schmuck hing frei an den Zweigen. Die Häuser – ein Wald, und die Fenster – ein Garten! Da blühten Fuchsia und Rose, Erika und Rhododendron; hinter den Blumen blühten die Mädchen und wieder über die Köpfe der Töchter hinweg guckten die Mütter, freilich keine Blüten mehr, und ließen die blau-grün-gelben Haubenbänder im Winde flattern. Alles nickte und grüßte und lachte, selbst Gouvernanten entschlugen sich ihres vorschriftsmäßigen Ernstes und lächelten so bedeutungsvoll, wie der Sklave, wenn er die Kette bricht.

Dazu zahllose Girlanden, die sich von Dach zu Dach quer über die Straße zogen. Der Inhalt ihrer Tafeln und Inschriften war es, was mehr als alles andere der Fest-Dekoration meine Aufmerksamkeit in Anspruch nahm. Ich gebe einige dieser Kernsprüche in wortgetreuer Übersetzung.

„Triumph bürgerlicher und religiöser Freiheit!“
So empfing uns eine Fahne am Eingang in die Stadt.
„Wer ist bigott? wer predigt religiöse Verfolgung? wer stimmt gegen unsere katholischen Brüder? Wer?

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Ein Sommer in London