Der verengländerte Deutsche.

Einer meiner Freunde erzählte mir: Gebrüder Miller sind eine wohlbekannte Firma in der City von London. Vor Zeiten hießen sie Müller und waren so loyale Berliner, wie sie das Spandauer Viertel nur je in seiner Mitte sah. Vor zehn Jahren vertauschten sie die Papenstraße mit Moorgate-Street und ersetzten den heimatlichen Klappkragen durch aufrechtstehende Vatermörder. An diese – fuhr mein Freund fort – hatt’ ich einen Kreditbrief in der Tasche. Guten Mutes trat ich bei ihnen ein und mich gegen zwei blonde Männer verbeugend, die am Pult einander gegenüberstanden, fragt’ ich auf deutsch: „ob ich die Ehre habe, Gebrüder Müller“ ...? our name is Miller! unterbrach mich der Angeredete und schrieb weiter. „Ich bringe Ihnen Grüße vom Bankier Meyerheim... very much obliged!... und wollte mir erlauben, Ihnen diese Zeilen persönlich zu übergehen.“ Müller II. nahm den Brief in Empfang, durchflog ihn und antwortete dann: tomorrow, Sir! ten o’clock if you please. Das war mir zuviel und beide Arme in die Seite stemmend, schnarrte ich im entschiedensten Jargon unserer Heimat: „Wat! zwee Berliner im keen Wort deitsch nich? Shame, indeed!“

Ob wahr oder erfunden (mein Freund exzelliert in Anekdoten), jedenfalls darf ich versichern, daß die Gebrüder Miller aus dem Leben gegriffene Typen sind. Unter hunderterlei Namen bin ich ihnen in allen Kreisen der Gesellschaft begegnet und dem Niederdrückenden dieser Erfahrung hab ich nur den einen Trost entgegenzuhalten, daß das Jahr 48 dieser nationalen Verkommenheit ein Ende gemacht zu haben scheint. Was von dieser Misere bisher mir in den Weg trat, war in vormärzlicher Zeit über den Kanal gegangen. Nicht als ob ich – wie man geneigt sein könnte aus diesem Lob zu schließen – den unbedingten Bewunderern jener Bewegungsepoche angehörte. Keineswegs. Aber die Untreue und die Maßlosigkeit, die Illoyalität und die Verkehrtheit jener Zeit, die so oft und so gebührend verurteilt worden sind, sollten uns die nationale Seite, diesen gesunden Kern jener Erhebung, nicht undankbar verkennen lassen und uns nicht blind gegen die Tatsache machen, daß ein deutscher Geist, wie ihn die Freiheitskriege sahen, erst unter den Gewehrschüssen des 18. März wieder erwachte, ähnlich wie der Frühling unter Donnerschlägen seinen Einzug zu halten liebt.


Selten nur trifft man im bunten Treiben der Weltstadt auf einzelne jener Flüchtlinge, die der Sturm der letzten Jahre an die englische Küste geworfen hat; sie lieben Zurückgezogenheit und verkehren (mit Ausnahme eines in Kneipenroheit verkommenen Abhubs) geräuschlos untereinander. Aber häufiger fast als einem lieb ist, begegnet man den „Landsleuten aus der alten Schule“. Überall in der City – in den Lesezimmern des Lloyd wie an der Kornbörse in Mark-Lane, in den Docks-Kellern wie an den Eßtischen des Mr. Simpson – stößt man auf ihre unerquicklichen Gesichter; keiner aber lernt sie besser kennen als der Beneidenswerte, der in einer Kaufmannsstadt an der Nord- oder Ostsee zu Haus, ein Empfehlungsschreiben an diese oder jene deutsch-englische Firma in seinem Lederkoffer mit herüberbringt – und an die Erfahrungen solcher Bevorzugten richt’ ich jetzt die Frage: ob es etwas Trostloseres gibt, als die Gestalt des „verengländerten Deutschen“.

Der englische Kaufmann ist praktisch, ist auf Erwerb aus, ist Kaufmann durch und durch. Aber – vorausgesetzt, daß er jemals die Ader eines Gentleman in sich hatte – so bleibt ihm diese wie eine Schutz- und Grenzlinie gegen den Schacher durch alle Phasen seines Lebens hindurch, und wenn er begreiflicherweise auch in der Einseitigkeit und Ausschließlichkeit seines Strebens nach Erwerb, kein Gegenstand unserer besonderen Zuneigung werden kann, so können wir ihm doch um der Klugheit seiner Kombination und der Energie, Ruhe und Gradheit seiner Handelsweise willen, unsre Hochachtung nicht versagen. – Wie anders der deutsche Kaufmann, der herüberkommt! Ängstlich bemüht, an den englischen Kaufmann gleichsam hinan zu wachsen, hat er bei seinem Betreten britischen Bodens nichts Eilfertigeres zu tun, als unter der Aufschrift: „Sachen ohne Wert“ das bißchen deutsche Liebenswürdigkeit, das er in Gestalt von Bonhomie, gemütlichem Spießbürgertum, Ungeniertheit und derbem Witze mit herüberbrachte, in die väterliche Wohnung zurückzuschicken, und ohne im geringsten das feine Auge für all die Vorzüge zu haben, die den englischen Kaufmann – und sei er der erwerbslustigste – noch immer charakterisieren, setzt er seinen ganzen Eifer daran, ihn in allerhand Manieren (natürlich immer die schlechtesten) zu erreichen, in Manipulationen und Kunstgriffen, die freilich am meisten in die Augen springen, aber den echten Engländer so wenig ausmachen, wie etwa das Dreinschlagen mit Kolben einen tüchtigen Offizier.

Dennoch ist der verengländerte Deutsche innerhalb der Geschäfts- und Handelssphäre nur halb er selbst. Bereicherung! steht auf der Fahne jedes Kaufmanns und die ungeschickteren Hände, mit denen die deutsche Kopie des englischen Kaufmanns im Golde wühlt, die gierigen Augen, mit denen er es verschlingt, wollen wir ihm nicht zu hoch in Rechnung stellen. Er ist eben nur eine Steigerung dessen, was jeder Kaufmann, auch der englische, mit ihm teilt und selbst das Obermaß seiner Erwerbslust ist immer noch gleichsam zu Haus innerhalb des kaufmännischen Berufs. Aber widerlich wird diese Gold-Jagd auf anderen Gebieten und um so widerwärtiger, je geistiger das Gebiet ist, das der verengländerte Deutsche nicht verschmäht, durch seinen Schacher (wofür er den Ausdruck „praktische Richtung“ hat) zu verunglimpfen. Die Künstler, die Schriftsteller, die Gelehrten – sobald sie dieser englischen Krankheit verfallen, machen ihr ganzes Tun zum bloßen Gewerbe und von einer liebenden Hingabe an die Sache findet sich keine Spur mehr. Kunst und Wissenschaft werden sich in solchen Händen niemals Zweck; sie sind nur Mittel. Nicht Mittel in jenem hohen Sinne, wie innerhalb der christlichen Kunst des Mittelalters; auch Mittel nicht in jenem erlaubten Sinne, wo sich das Leben selbst als Zweck ergibt; nein, Mittel in jenem schlechtesten Sinne, Mittel zum Reichwerden, zur plötzlichen Erhebung und zum endlichen Nichtstun, als süßen Lohn kurzer, lügnerischer Arbeit. Das Trostloseste sind die deutschen Ärzte, über die das Engländertum hereingebrochen ist. Ich wohnte mit einem solchen zusammen; er forderte und erhielt für ein kuriertes Schnupfenfieber 20 £ St. (130 Rtlr.) und erzählte mir unter Lachen den Fischzug, den er gehalten habe. Ich kannte auch das Opfer dieser Prellerei und habe die betreffende Rechnung mit Augen gesehen. Man spricht in Deutschland von interessanten Fällen und unsere Patienten sträuben sich dagegen, ein solcher zu sein. Verarg’ es ihnen, wer mag. Aber unter allen Umständen sind sie, um eben ihres Leidens willen, einer lebhaften und gleichsam nobeln Teilnahme von seiten ihres Arztes sicher. Solche interessanten Fälle kennt der deutsch-englische Arzt nicht; mit der Wissenschaft hat er abgeschlossen, lernen oder verdummen gilt ihm gleich, und nur ein interessanter Fall ist für ihn geblieben: die gefüllte Börse eines Westend-Lords oder eines City-Kaufmanns aus dem Ostindien-Viertel.

Ich habe mich bis hierher gemüht, ein Charakterbild des Deutsch-Engländers zu geben; wend ich mich jetzt seiner mehr äußeren Erscheinung zu. Er spricht alle Sprachen mit Ausnahme des Deutschen. In seiner Tracht und Haltung überengländert er den Engländer. Er hat beständig schwarzen Flor um den Hut, trägt Röcke, deren Taille mehr dem südlichen Wendekreis des Steinbocks, als dem mittellinigen Äquator entspricht, exzelliert in buntfarbigen Sommerkrawatten, scheitelt sein Haar in der Mitte des Kopfes und verwendet alle möglichen Pasten und Schönheitswässer zur Herstellung des (unübersetzbaren) „egalen Teints“, dieses entscheidenden Kennzeichens des echten Gentleman. O ja, sie lernen ihm ab, wie er sich räuspert und wie er spuckt, und nur ein letztes Etwas entgeht entweder ihrem Auge oder liegt jenseits ihres Nachahmungstalents. Dies Etwas ist es dann, was schließlich doch einen Strich durch die Rechnung macht.

Ihre Taschen liegen sämtlich unterm Schutz eines Brama-Schlosses, zu dem der Schlüssel verlorengegangen ist. Für schlechtweg Bedürftige haben sie ein stereotypes Achselzucken und für die Flüchtlinge der letzten Jahre einen bequemen und billigen Hohn.

Begegnet man ihnen in der Gesellschaft, so suchen sie das Flachsenfingen, wo ihre Wiege gestanden, bis zum Äußersten hin zu verleugnen. Fallen sie der Ehrlichkeit des vorstellenden Wirts aber dennoch zum Opfer und zieht Neugier oder Spottlust sie in eine vornehme Unterhaltung mit dem jungen Huronen, der keine glanzledernen Stiefel trägt und das Unglück hat, Deutschland sein Vaterland zu nennen, so beginnen sie (versteht sich englisch) „wie befindet sich Ihr König? Alles noch wohlauf bei Hofe? kein neuer Orden kreiert? kein Garde-Leutnant zum Kultus-Minister avanciert, oder kein Alt-Lutheraner General der Kavallerie geworden?“

So geht es fort. Wer möchte ihnen die Anerkennung versagen, daß die Pfeile ihres Spottes gelegentlich treffen; aber diese Renegaten und verkommenen Söhne eines auch in seinen Schwächen noch großen und herrlichen Vaterlandes haben nicht das Recht, diese Pfeile abzudrücken. Ihr Wesen geht auf in Lieblosigkeit und Undankbarkeit gegen den Boden, der sie gebar. Sie kennen nur Schattenseiten und vergessen, daß hier wie überall der Schatten das Licht voraussetzt. Sie verwechseln die eigene Verkommenheit mit der vorgeblichen des Volkes, dem sie angehörten und halten die Einflüsterungen eines bornierten und selbstgefälligen Egoismus für die Stimme der Freiheit und politischen Weisheit.
Der einsichtige Engländer (freilich wie überall ein kleiner Bruchteil) blickt bescheiden auf die Besonderheit seines durch Lage und Gang der Geschichte bevorzugten Landes und ist weitab sich persönlich das Verdienst von Dingen zuzumessen, die Gottes Ratschluß ungleich mehr als der englische Nationalcharakter, geschweige dessen modernste Erscheinung, hervorgerufen hat. Wilhelm III. konnte unterliegen, und England wäre unterm Szepter der katholischen Stuarts denselben Weg wie die Staaten des Kontinents gegangen. Das verhehlt sich kein gebildeter Brite.

England ist kein Polizeistaat; aber warum nicht? weil es keiner zu sein braucht. Disraeli selber sprach es aus: unser Land hat keine Ahnung von der Macht und Ausdehnung jener Umsturzpartei, die auf dem Kontinent ihr Wesen treibt. Hätten wir Ähnliches, wir würden zu ähnlichen Mitteln greifen müssen und der Londoner Philister, der seit 40 Jahren gewöhnt ist, seinen Morgenimbiß in Gesellschaft der Times oder Morning Post zu nehmen, würde sich daran gewöhnen müssen, seinen Frühstücksgefährten von Zeit zu Zeit nicht erscheinen zu sehen.

So sprechen Engländer. Der verengländerte Deutsche aber schimpft über Polizei und Soldateska, spricht von der Teilung Deutschlands wie von einer abgemachten Sache, nennt Leibniz einen Schleppenträger des Newton und Goethe-Schiller die Aushökerer des Shakespeare. „Ihr habt nichts als den Hegel „ – so schließt er – „und den lassen wir euch.“ Ihn widerlegen, hieße ihn ehren; man läßt lächelnd einen Strom solcher Torheiten über sich ergehen und schreibt abends ins Tagebuch: bei Mr. N. einen Landsmann aus der alten Schule getroffen; einer wie alle: flach, eitel, undankbar!

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Ein Sommer in London