Der Tower.

Die Sonne lacht und der Himmel ist wolkenlos. Ein Steamer trug uns von Westend bis an die Londonbrücke, und auf gut Glück dem Menschenstrom uns überlassend, der jetzt in die Themsestraße einmündet, befinden wir uns plötzlich inmitten des bunten City-Treibens und schwanken, staunenden Auges, was reicher sei: der blitzende Bazar, von dem wir kommen, oder das rußige Bergwerk, zu dem wir gehen. Ganz London ein goldener Baum: Westend seine Blüte, aber die City – Wurzel und Stamm.
Doch wir haben andere Ziele heut als Dock und Speicher, als Keller und Werft, und vorüber an „Billingsgate“, dem weltberühmten Fischmarkt, der mit seinen Austern und Muscheln und all seinem noch kribbelnden Seegewürm: Krabben und Krebse, Lobster und Spinnen – vor uns liegt wie ein trockengelegtes Stück Meer, vorüber auch an Zollhaus und Kohlenbörse, geraten wir jetzt auf einen weiten, freien Platz, der mählich ansteigend einem gepflasterten Hügel gleicht. Auf ihm liegt der „Tower“. Gespenstisch-grau steht er da: ein Grabmonument über einer gestorbenen Zeit und – die englische Geschichte seine Inschrift.

Der Tower ist eine Art Fort, von einem breiten, jetzt ausgetrockneten Graben ringsum eingefaßt, und besteht aus einem bunt zusammengewürfelten Haufen von Wällen und Türmen, deren bedeutendster, der weiße Tower, wiederum eine Zitadelle für sich bildet und isoliert aus der Mitte des geräumigen Festungshofes emporragt. Wie weit der Tower unsern modernen Anforderungen an einen „festen Platz“ entspricht, muß ich dahingestellt sein lassen; seine Lage indes, auf einem Hügel inmitten der Stadt und in unmittelbarer Nähe der Themse, darf noch jetzt als überaus günstig bezeichnet werden: er beherrscht Stadt und Strom. Es ist um deshalb auch mindestens wahrscheinlich, daß der alte Römerturm, dessen Überbleibsel einem noch jetzt als Fundament des weißen Towers gezeigt werden, wirklich an dieser Stelle gestanden habe, da keinem Kriegsverständigen, geschweige einem Cäsar, die Vorteile dieser besonderen Lage entgehen konnten. Der jetzige Tower, soweit er überhaupt dem Mittelalter angehört, ist überwiegend eine Schöpfung Wilhelms des Eroberers, der eine Festung nötig glaubte, um das zu Aufständen geneigte London (man ersieht nicht, ob aus Anhänglichkeit an die alte Sachsen-Dynastie) im Zaume zu halten.


Nur wenige Teile des Towers, und nicht eben die interessantesten, stehen dem Publikum zur Besichtigung offen. Wer alles sehen will, bedarf einer Erlaubniskarte von Seiten des Herzogs von Wellington, wenn er’s nicht (was anzuraten ist) vorzieht, sich jenes silbernen Schlüssels zu bedienen, der überall schließt, auch im Tower zu London.

Der Besucher passiert zunächst vier aufeinanderfolgende Tore, die jeden Morgen bei Tagesanbruch mit allen Förmlichkeiten einer Festung geöffnet werden. Am ersten oder zweiten Tore gewahrt man eine Art Wachtlokal, vor dem ein halbes Dutzend seltsam gekleideter Gestalten auf und ab patrouillieren und gähnend in die Morgensonne blicken: es sind die Towerwächter in ihrem mittelalterlichen Trabantenkostüm. Vordem hießen sie „Yeomen“; die große Masse Rindfleisch indes, die sie in der königlichen Vorhalle zu vertilgen pflegten, wenn sie Dienst im Schlosse hatten, zog ihnen den Namen „Beefeater“ (Rindfleischesser) zu, eine Bezeichnung, die ihnen – und ihren wohlgenährten Gestalten nach mit vollem Recht – bis auf den heutigen Tag geblieben ist. Ihre Tracht ist mehr auffällig als schön, wiewohl jedenfalls nicht häßlicher, als der taillenlose Schwalbenschwanzfrack eines modernen englischen Soldaten. Das Kostüm der Beefeaters besteht aus einem roten, vielfach mit allerhand Plattschnur besetzten Waffenrock und einem Hut, der, mit Ausnahme seiner breiten Krempe, genau der samtnen Kopfbedeckung unserer protestantischen Geistlichen gleicht. Einen dieser Towerwächter wählt man als Führer.

Was wir zunächst gewahren, ist der Bell-Tower (Glocken-Turm), auf dem sich die Alarm-Glocke für die Garnison befindet. In diesem Turme saß Prinzessin Elisabeth und vor ihr Graf Salisbury gefangen; doch bedarf beides der Bestätigung. Wenige Schritte weiter bemerkt man in dem Steinwall zur Rechten eine schwere, eisenbeschlagene Tür; das ist „Traitors Gate“, das „Hochverräter-Tor“. Von einer zur Seite gelegenen Schreinerwerkstatt aus läßt sich ein Überblick über diesen Ort gewinnen. Es ist ein Wasserbassin, von der Größe und dem Ansehn einer geräumigen Badezelle; von oben blickt der Himmel herein. Einander gegenüberliegend gewahren wir zwei Tore: das eine führt auf den Strom, das andere zum Tower-Hof. Geräuschlos, meist in dunkler Nacht, glitt das wohlbesetzte Boot die Themse hinunter. Fernab von Volk, Freunden und jeder Möglichkeit der Rettung, starrte der Angeklagte vor sich hin und ahnte: ich fahre in den Tod. Wenn das Außentor sich öffnete und wieder schloß, war er schon wie im Kerker: vier hohe Wände ringsum und nur ein Streifen Himmel über sich. Zu ihm mocht1 er aufblicken, ihn mocht’ er anrufen: das Ohr und die Gnade der Menschen lagen weit hinter ihm. Schweigend legte sich das Boot an die steinernen Stufen, die noch jetzt zu dem innern Tore hinaufführen, und der Verklagte bestieg sie wie seine erste Leiter zum Schafott. Der letzte, der hier anlegte, war Arthur Thistlewood, ein Führer der Cato-Street-Verschwörung; wenige Wochen später war er gehenkt. Unter den wenigen, die diesen Weg zweimal machten, hin und zurück, war Prinzessin Elisabeth.

Fast gegenüber von Traitors Gate bemerken wir einen zweiten Turm. Er heißt Bloody-Tower, Blut-Turm. Hier wurden die Söhne Eduards erwürgt. Im zweiten Stock gewahren wir ein Fenster mit trüben, in Blei gefaßten Scheiben; dahinter liegt der Ort der Tat. Das Fenster steht halb offen und schaut drein, als bät’ es den sonnigen Tag um Luft und Licht. Umsonst! Der Blutgeruch haftet hier, wie an den weißen Händen der Lady Macbeth.

Das gewölbte Tor des Blutturms führt uns auf einen geräumigen Platz, von Wällen, Türmen, altertümlichen Häusern und modernen Kasernen ringsum eingefaßt. In der Mitte des Platzes erhebt sich der White-Tower. Nach der Ostseite hin erblicken wir die Überreste des Bowyer-Turms, wo der Herzog von Clarence im Malvasierfaß ertränkt wurde. Nicht fern davon ist der Brick-Tower, wo Lady Jane Grey gefangen saß, und der Wakefield-Turm, wo Heinrich VI. ermordet wurde. Interessanter aber für den Besucher ist der Beauchamp-Turm, das ehemalige Staatsgefängnis, worin die Mehrzahl derer saß, die unter der Anklage des Hochverrats standen. Wir treten ein. Was wir zuerst erblicken, ist, aus der Kellertiefe emporragend, der Oberteil eines backofenartigen Kerkers. Aber dieses Wort ist Beschönigung: es ist ein Kerker loch. Der Raum reicht nur eben aus zum Sitzen; es ist unmöglich, sich darin zu strecken oder gar aufrecht zu stehen. Kein Lichtstrahl dringt hinein. Die Wände dieser Höhle sind mit eingekratzten Namen bedeckt (ich sah sie beim Schimmer eines angezündeten Lichtchens), aber teils unleserlich, teils ungekannt. Nur von einem weiß man mit Sicherheit, daß er hier atmete: Lord Cholmondely (zur Zeit Heinrichs VIII. oder der Maria Tudor) saß hier sieben Jahre. – Eine Steintreppe führt uns ins erste Stock und wir befinden uns jetzt in einem achteckigen Zimmer, dem ziemlich geräumigen Speisesaal der Tower-Garnisons-Offiziere. Vor drei Jahrhunderten saß hier minder heitere Gesellschaft am Tisch; zahllose Inschriften an den Wänden geben Kunde davon. Viele sind flüchtig eingekratzt, wie in der letzten Stunde vor der Befreiung, oder doch (denn zu oft nur war es Täuschung) in dem Glauben daran. Andere sind tief und sauber eingegraben; die Arbeit eines Mannes, der da wußte: ich habe Zeit. Oft begegnet man dem Schriftzug AR, den Anfangsbuchstaben des Lords ARundel, Grafen von Norfolk. Hier saß Thomas Bell (Glocke); er hat eine Glocke gezeichnet und seinen Vornamen samt Jahreszahl hinein. Hier saßen fünf Brüder Dudley: Guilford, Robert, John, Ambrosy und Henry. Guilford starb unterm Beil der einen Königin: Robert (Graf Leicester) stand neben dem Thron der anderen. Hier saß Arthur Poole, ein Enkel des Herzogs Clarence, und kratzte, halb Hoffnung, halb Verzweiflung, in die Wand: „Gefahrvolle Fahrt verschönt den Hafen.“ Hier saß Charles Bailley, der Freund der schottischen Marie; dem Gedanken nachhängend, daß seine Königin dulde, wie er selbst, schrieb er in den Stein: „Der ist der Unglücklichste, der verzagt wenn er leidet, denn nicht das Unglück tötet uns, sondern die Ungeduld.“ Ein breiter Rand, gleich einem Rahmen, zieht sich um diese Worte und in ihm lesen wir: „Feind sei keinem, Freund nur einem.“ Hier saß Thomas Clarke. Die Geschichte hat keinen Raum für ihn gehabt auf ihren Tafeln, aber die Wände dieses Kerkers überliefern uns seinen Namen und in zwei Zeilen sein Leben und seinen Schmerz:

Prüfe den Freund bevor du vertraust,
Und wohl dir, wenn du dann sicher baust.

Wir verlassen dies Zimmer wieder, das mir schlecht gewählt scheint für die Tischheiterkeit junger Offiziere und halten uns, hinaustretend auf den Hof, zur Rechten, um der Tower-Kapelle St. Peter ad Vincula einen flüchtigen Besuch zu machen. Bevor wir sie erreichen, haben wir, fast in Front der Kirche, einen mit Kalkstein gepflasterten Platz zu passieren, der durch seine kreisrunde Form kaum minder auffällt, als durch die Weiße seiner Steine, auf die eben jetzt das volle Licht der Sonne fällt. Hier stand das Schafott, auf dem das Haupt der Anna Bulen fiel. Zehn Schritt davon, im sogenannten Juwelen-Zimmer, wird einem die Edelsteinkrone gezeigt, die sie am Tage ihrer Vermählung trug. So nah beieinander das Zeichen höchsten Glanzes und die Stätte tiefster Schmach! Nun ist vergessen fast, was hier geschah; Kinder spielten auf dem Platz. – Wir treten in die Kapelle. Es ist eine schlichte Kirche, aber ein vornehmer Kirchhof. Du siehst nicht Kreuz, nicht Stein; saubere Teppiche bedecken den Boden, helles Sonnenlicht fällt durch die Scheiben, freundlich blicken die Kapitäler auf dich nieder und doch – ein Kirchhof. Du kennst die Vineta-Sage! Es ist, als ob Du bei sonnigem Tag über den Meeresspiegel fährst: Gold und Glanz und Bläue um Dich her, doch unter Dir die begrabene Stadt. Wo sich der Altar erhebt in echt englischer Einfachheit, könnten Grabmonumente stehen, tiefer noch und poetischer gedacht, als der belebte Marmor in St. Paul und Westminster. Hier ruhen, den Kopf vom Rumpf getrennt, Anna Bulen und Kate Howard, Thomas Cromwell*) und Graf Essex, Jane Grey und Guilford Dudley, und zuletzt auch Herzog Monmouth, der unterm Beile sterben mußte, weil seines Vaters Blut in seinen Adern war; denn wer ein Stuart war, stand dem Schafotte näher als dem Glück.

An der andern Seite, grad über dem Altar, ist eine zweite Grabstätte. Bänke und Betstühle ziehen sich darüber hin, und allsonntäglich singt hier die gedankenlose Menge und weiß kaum, auf wessen Köpfe sie tritt. Dort ruhen drei Schotten: die jungen Grafen Kilmarnock und Balmerino, und Lord Lovat, ein Greis von achtzig. Sie waren mit bei Culloden und sahen den Stern der Stuarts und ihren eignen untergehen. Die Schlacht schonte ihr Leben, nicht so der Henker. Da ist die vielgesungene Ballade aus der Zeit der Königin Elisabeth, vom alten Norton und seinen sechs Söhnen:

Sie fielen nicht auf blutigem Feld
Und litten doch alle blutigen Tod:
Vergebens war seine Locke so weiß,
Vergebens war ihre Wange so rot –

das mochte man wieder singen im schottischen Hochland auf den Tod der drei Lords, des alten und der zwei jungen.

Wir verlassen die Kirche und wenden uns jetzt zum White-Tower. Er hat seinen Namen vermutlich von dem weißen Kalkstein, womit seine Wände und Türme an den Ecken eingefaßt sind. Was wir zuerst sehen, ist eine Rüstkammer: fünfundzwanzig Ritter zu Pferde, jeder ein König oder doch mächtig wie er. Wer entschlüge sich des Eindrucks, wenn er durch einen Ahnensaal geht und Bild auf Bild längst verschwundener Herrlichkeit auf ihn niederschaut! Dieser Eindruck verstärkt sich hier. Der Beschauer nimmt Revue ab: vierhundert Jahre und ein Geschwader von Königen ziehen an ihm vorüber. Der Zug beginnt mit Eduard I. und schließt ab mit Jakob II. Gegen ihn hat sich auch hier noch der Haß und die Verachtung des Volks gekehrt: das Schwert an seiner Seite gleicht einer Harlekins-Pritsche, und mit zerzauster Perücke, schäbigem Rock und einem Gesicht voll unendlicher Stupidität schaut er drein, eher ein Barbier zu Pferde, als ein König von England. In der langen Reihe derer, die, wo nicht das Szepter, doch die Zügel des Reichs in Händen hatten, fehlt nur einer – Cromwell. Statt seiner reitet Graf Strafford an der Seite seines königlichen Herrn, auch hier noch sein Schildknapp, wie einst im Leben. – Wir verlassen die Rüstkammer und treten zunächst in einen schmalen Gang. Auf einem Fenstersims liegt ein hartes, schweres Stück Holz; der Führer gibt es Dir in die Hand; Du wägst es; was ist’s? Das ist Stammholz von einem Maulbeerbaum, der dicht unter diesem Fenster auf dem Grabe der Söhne Eduards wuchs. Während Prinzessin Elisabeth hier gefangen saß, liebte sie es, unter dem schattigen Maulbeerbaum zu sitzen und in Sommerszeit von seinen Beeren zu essen. Süße Frucht von bittrem Leid! – Eine schmale Stiege führt uns in die Kapelle Wilhelms des Eroberers. Sie ist wohlerhalten und zeigt deutlich den alten Normannen-Stil; kein Spitzbogen, nur runde, mächtige Säulen mit stets wechselndem Schmuck der Kapitäler. Im zweiten Stock treten wir in einen weiten Saal. Seine Wände sind vierzehn Fuß dick; ein dreimannsbreiter Gang ist rundum in die Mauer gehauen und dient als ein versteckter Korridor. Der Saal selbst ist das Tower-Archiv: Bücher, verstaubte Akten und Pergamente ringsum. Einst lagen hier nicht Chroniken und die Berichte geschehener Dinge, sondern die Dinge selbst geschahen hier. Hier hielt Richard III. Staatsrat; am teppichbedeckten Tische saßen Buckingham und Hastings, Stanley und Bischof Ely, Catesby und eine lange Reihe stolzer Grafen und Lords. Auf sprang Richard, ein Todesurteil auf der Lippe; und als Lord Hastings dazwischentrat, mit einem zitternden „wenn“ das bedrohte Leben Elisabeths (der Witwe Eduards IV.) zu retten, rief ihm der König zu:

Wenn?! Du Beschirmer der verdammten Beß,
Sprichst du von „wenn“ mir noch? Verräter!
Herunter seinen Kopf!

Und mit dem Fuße das Zeichen gebend, traten jetzt seine Söldner aus dem verdeckten Gange hervor, und Lord Hastings war – ein toter Mann.

Wir lauschen den Worten des Führers, die Eindruck machen trotz ihrer Leiermelodie, und schweratmend unter der schwülen, staubigen Luft dieser Räume, vielleicht auch unter ihren Erinnerungen, erklimmen wir jetzt die letzte schmale Treppe und treten durch einen der vier Türme auf das flache Dach des Towers hinaus. Welcher Anblick!

Die Sonne lacht und der Himmel ist wolkenlos; glitzernd zieht sich der breite Strom vor uns dahin; tausend Boote durchkreuzen ihn; Bienenfleiß in den Straßen und geschäftiger Lärm an Dock und Werft. Das Gesumm steigt gen Himmel auf, bewußt und unbewußt, wie die fromme Bitte: „Unser täglich Brot gib uns heute.“ Und der Himmel gibt’s. Wir aber, verloren in dem Anblick, der sich vor uns auftut, fühlen im Innersten: schön sind die Schauer der Romantik wie Gespenstergeschichten am Kamin, aber wohl uns, daß wir nur hören davon; – sie lesen sich gut, aber sie erleben sich schlecht.

„Not a drum was heard“**)

Tagüber war Regen; nun standen die Sterne klar am Himmel, aber sie spiegelten sich in Wasserlachen und die Luft ging kalt. Es mochte Mitternacht sein. Wir durchschritten die endlos langen Straßen Southwarks und froren bis aufs Mark. So kamen wir in die Nähe der Themse; schärfer blies der Wind und unsere sechs Augen glitten jetzt, wie von einem Willen regiert, die Häuserreihen hinab: sie suchten ein farbiges Licht, sehnsüchtig wie der Schiffer seinen Leuchtturm. Nichts leichter zu finden in London, als eine bunte Laterne! Wir traten ein; der Zufall hatte uns glücklich geführt. Keine nackten Wände mit Zinnkrügen ausstaffiert und Qualm an der Decke; nein, blendendweißer Stuck, Pfeilerspiegel und Seestücke von Meisterhand ringsum an den Wänden. Es war ein Matrosen-Salon. Wo der Matrose verkehrt, da herrscht Luxus und Reichtum. Zwölf Monat auf See, zwölf Tage an Land: mit der Blindheit der Leidenschaft stürzt er sich in den Strudel wilder Lust, wirft sein Geld weg, das ihm schon morgen nichts mehr frommen mag, und nennt das – sein Recht. Eine Stunde Rausch für jede Stunde Gefahr!

Aber die tollen Gäste fehlten heut: kein Tanz, kein Spiel, kein Zank; keine Mütze mit dem Dreifarbenstreif und keine knapp anliegende Jacke mit ihrer Doppelreihe goldblanker Knöpfe. Vergeblich flackert die Flamme im Kamin; taghell blitzen die doppelarmigen Kandelaber; umsonst! Umsonst stimmen Baß und Geige ihre Saiten und proben und locken; jeder Eintretende bringt eine Enttäuschung – auch wir.

Dennoch ist eine Gesellschaft versammelt. Im Halbkreis um den Kamin herum lagen zwanzig Weiber: die Mehrzahl von dunklem Teint und schwarzem Haar, voll und üppig, Bilder der Kraft und Sinnlichkeit zugleich. Daneben – Kinder von fünfzehn Jahren und darunter, blaß, frech, schwindsüchtig, ganz vom Laster und halb vom Tod erfaßt. Orientalisch, mit untergeschlagenen Beinen sitzen sie auf gepolsterten Kissen: apathisch-schläfrig starrt die eine in den Kamin; lachend über das Scherzwort ihrer Nachbarin zeigt die zweite ihre blendend weißen Zähne; wohlgefällig, im Spiegel gegenüber, freut sich die dritte ihrer dunklen Schönheit; eine vierte und fünfte würfeln um die Zeche; der Rest lärmt und lacht und gähnt; nur eines ist allen gemeinsam – das Glas Grog in der Hand.

Rechts von ihnen, an einem Steintisch, sitzen drei Stammgäste, Männer zwischen vierzig und fünfzig, feste Leiber und feste Seelen, gleichgültig gegen Leben, eigenes und fremdes, Helden im Kriege, Gesindel im Frieden, längst fertig mit den Weibern, nur zweierlei noch im Herzen: Alt-England und – Rum.

„Hört auf zu quietschen!“ ruft jetzt der Älteste von ihnen den Fiedlern zu, „wen lockt ihr noch um Mitternacht? Wer kommen will, war längst da. Aufgepaßt! ich sing’ euch eins.“

„Bravo! Old-Bobwill singen; still da!“ ging’s jetzt im Kreis herum, bis endlich die vielen Rufe in den einen zusammenklangen: „Dein Leiblied, Bob! fang an! not a drum was heard!“

Der Alte war aufgestanden. Er warf seinen breitkrempigen Hut auf den Tisch, als ging er an das Lied wie an sein Gebet, fuhr mit der Hand rasch über Gesicht und Haar, räusperte sich und begann:

Kein Trommelwirbel, kein Grablied hohl,
Als wir an den Wallrand lenkten
Kein Schuß rief über ihn hin: „Fahr wohl!“
Als wir ihn niedersenkten;
Wir senkten ihn nieder um Mitternacht;
Sein Grab – ohne Prunk und Flimmer:
Wir hatten’s mit Bajonetten gemacht
.Bei Mond- und Windlicht-Schimmer.

Viel Zeit zum Beten hatten wir nicht,
Nicht Zeit zu Klagen und Sorgen,
Wir starrten dem Toten ins Angesicht,
Und dachten: „was nun morgen!“
Kein Grabtuch da, kein Priester nah,
Kein Sterbekleid und kein Schrägen,
Wie ein schlafender Krieger lag er da.
Seinen Mantel umgeschlagen.

Und kaum noch, daß unser Tun vollbracht,
Heim rief uns die Glock’ von den Schiffen,
Und über uns hin jetzt, durch die Nacht,
Des Feindes Kugeln pfiffen;
So ließen wir ihn auf seinem Feld,
Blutfeucht von Heldentume,
Da liegt er und schläft er allein, unser Held,
Allein mit seinem Ruhme.

Wir dachten, als wir den Hügel gemacht
Über seinem Bette der Ehre:
Bald drüber hin zieht Feindes Macht,
Und wir – weit, weit auf dem Meere;
Sie werden schwätzen viel auf und ab
Von Ehre, die kaum gerettet, –
Doch nichts von allem dringt in sein Grab,
Drin wir Britischen ihn gebettet.

Er schwieg und einen Augenblick alles mit ihm. Dann aber sprangen die Weiber von ihren Polstern auf, die Fiedler ergriffen ihre Geigen wieder, und ohne das ein Zeichen gegeben oder ein Wort gesprochen war, klang jetzt in begeistertem Chorgesang der letzte Vers des „Sir John Moore-Liedes“ noch einmal durch die weiten Räume des Saales.

Die letzte Note war verklungen; man schwang die Gläser, man schrie, man lärmte; wir aber brachen auf, ängstlich bemüht, den Eindruck dieser Szene ungetrübt mit nach Hause zu nehmen. Schweigend schritten wir über die Londonbrücke, tausend Lichter spiegelten sich im Strom, hundert Schiffe streckten ihr Mastenwerk phantastisch in die Nacht, von St. Paul schlug es zwei, mir aber klang’s noch immer im Ohr: not a drum was heard!

Das ist das Mark dieses Volkes: national bis auf die Matrosendirne hinunter. Solche Kraft kann gedemütigt werden, aber nicht gebrochen; jeder Niederlage muß die Erhebung folgen.



*) Der Diener Kardinal Wolseys und dann sein Nachfolger in der Gunst Heinrichs VIII.

**) Dies sind die Anfangsworte des berühmten, von Charles Wolfe gedichteten Volksliedes: „The burial of Sir John Moore.“ John Moore war Generalmajor in Spanien und der Vorgänger Wellingtons im Kommando. Auf dem Rückzüge ward er bei Coruna (wo sich die englische Armee einschiffte) durch eine Kanonenkugel des verfolgenden Feindes getötet. In St. Paul ward ihm, unfern von Abercromby, ein Denkmal errichtet.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Ein Sommer in London