Der Fremde in London.

Ich hörte einmal die Hypothese irgendwo, daß unsere Erdachse vor Zeiten anders gerichtet gewesen wäre, daß wir einen andern Nord- und Südpol gehabt hätten und daß ein mildes Italien in Kamtschatka vielleicht und ein eisiges Spitzbergen in Sumatra zu Hause gewesen sei. Ich laß es dahingestellt sein, wie viel und wie wenig es mit dieser Erdverdrehungstheorie auf sich haben mag, muß aber meine Ansicht dahin bekennen, daß innerhalb jener Geographie, die ihre Karten nicht nach Ländern und Völkern, sondern nach gewissen moralischen Eigenschaften entwirft, solche Revolutionen an der Tagesordnung zu sein scheinen. Die deutsche Treue z.B., wo ist sie hin? Und die biedren Schweizer, wo sind sie geblieben? Der Großtürke kultiviert die christliche Sittenlehre und China schneidet seinen Zopf ab. Das galante Frankreich geht in die Kirche und überläßt die Vertretung seiner Artigkeit den Zoll- und Maut-Beamten; der Holzstoß des spanischen Inquisitors ist niedergebrannt und die englische Hospitalität liegt unterm Leichenstein.

Alt-Englands Gastfreundschaft ist nur eine Phrase noch, im günstigsten Fall eine Ausnahme. Sie lebt in alten Gesetzes-Paragraphen, aber sie ist erstorben in den Herzen; das Land steht offen, aber die Häuser sind zu. Ich erhalte Briefe von Zeit zu Zeit (aus Surrey und Essex), in denen die Wendung „our english hospitable house“ in jeder dritten Zeile wiederkehrt; aber der ohnehin bedenklichen Versichrung dieser Gastfreundschaft folgt immer das Bedauern auf dem Fuße, „aus diesem oder jenem Grunde an Ausübung derselben verhindert zu sein“, und nach einigen in höchster Artigkeit gewechselten Briefen nimmt man Abschied voneinander, ohne sich jemals mit Augen gesehen zu haben. Die Hospitalität Alt-Englands ist tot, und der mag es doppelt bedauern, dem es, gleich mir, in frühern Jahren vergönnt war, diesen liebenswürdigen Zug des englischen Volkscharakters in vollster Blüte kennenzulernen. Im Jahre 44 verbracht’ ich einen schönen Mai in diesem Lande. Wie war da alles anders. Mein Fremdenpaß war eine Art passe par tout und jede in schlechtem Englisch geschriebene Zeile ein selbstausgestellter und doch vollgültiger Empfehlungsbrief. Auf der Straße fand ich freundliche Führer, an öffentlichen Orten willfährige Dolmetscher und an der table d’hôte meines Gasthauses Tischgenossen, die mich in ihre Familien einführten und einluden zu Sonntagsbesuchen auf ihre Villen und Landhäuser. Mir war es mitunter als durchlebt ich einen Traum, als sei ich an die Küste einer Zauberinsel geworfen, und wenn ich aus diesem Traum mich selbst erweckte, so beschlich mich ein Mißtrauen gegen solch Übermaß von Freundlichkeit. Es war zuviel, als daß ich nicht hätte nach Motiven voll Selbstsucht suchen sollen.


Acht Jahre sind seitdem vergangen und an die Stelle einer Liebenswürdigkeit, die den Argwohn rege machen konnte, ist nun selber der Argwohn getreten. Ein Fremder sein heißt verdächtig sein. Die Flüchtlinge, die das Jahr 49 an diese Küste warf, haben teils mit, teils ohne Schuld den Fremden diskreditiert. Im Gefolge von Patrioten und Ehrenmännern, die dankbar diese Zufluchtsstätte betraten, überflutete allerhand Gesindel die Straßen und Plätze Londons, und an die Stelle herzlichen Willkomms trat alsbald Abneigung und Ekel. Hundertfacher Mißbrauch des Asylrechts rechtfertigte die Kälte und Abgeschlossenheit nur allzu sehr, die englischerseits alsbald zum guten Ton zu gehören begann, und die Dürftigkeit der Erscheinung, die Not, Armut und Abgerissenheit vollendete, was der Undank gegen gebotene Gastfreundschaft zu tun noch übriggelassen hatte. Dieser Punkt ist wesentlich. Der Engländer begreift es entweder nicht, daß unter einem zerrissenen Rock das Herz eines Gentleman schlagen kann, oder das Absehn von Äußerlichkeiten ist ihm so völlig unmöglich geworden, daß er lieber mit einem Laster in Frack und Handschuh, als mit einer hemdsärmligen Tugend verkehrt. – Der Fremde bringt es zu keiner Gemütlichkeit mehr in diesem Lande. Im Gegensatz zum preußischen Landrecht, das jeden Menschen a priori für unbescholten hält, gilt hier jeder Fremde für bescholten, so lange er nicht das Gegenteil bewiesen hat. Der billig denkende Fremde erklärt sich das und entschuldigt’s, aber unter allen Umständen nimmt es seinem Wohlbefinden die eigentliche Lebenslust und er erscheint sich überall wie ein vor Gericht Befindlicher, der sich unbehaglich umschaut, auch wenn er mit dem reinsten Herzen von der Welt an die Barre tritt. Unter einem Verdacht sein ist immer halb schuldig sein.

Es macht wenig Unterschied, ob man Empfehlungsbriefe hat oder nicht. Hat man keine, so sucht man natürlich sich selber zu empfehlen und Talente und Persönlichkeit nach Kräften wirken zu lassen. Im glücklichsten Falle mißglückt es nicht geradezu, man macht eine Bekanntschaft, sei’s zu Haus sei’s am öffentlichen Ort; aber es ist wenig gewonnen damit. Man erobert sich eine frostige Artigkeit, auch wohl – den Damen gegenüber – ein muntres, lachendes Geschwätz, aber so oft man sich auch sehn und scheinbar herzlich begrüßen mag, man kommt sich nicht näher, und der Verdacht, unter dem der Fremde als solcher steht, bleibt auch im besondersten Einzelfall immer derselbe. Dieser Verdacht muß bleiben, denn ein für allemal sei hier der Grundsatz aufgestellt: der Engländer ist praktisch, aber ohne Menschenkenntnis. Er ist betrogen worden und nun sind alle Betrüger. Diesen Grundsatz hält er aufrecht, nicht bloß weil er’s für praktisch hält, sondern weil er faktisch der Fähigkeit entbehrt, den ehrlichen Mann vom Beutelschneider zu unterscheiden. Blind, wie er sonst in seinem Vertrauen war, ist er jetzt in seinem Argwohn, und der Fremde, der noch die alten Zeiten kannte, seufzt, wenn er an die schönen Tage zurückdenkt, wo vierundzwanzig Stunden ausreichten, ihn „zum Kind vom Hause“ zu machen.

Und nun Empfehlungsbriefe! Sie füllten ein ganzes Fach in meinem Koffer und wogen schwer, aber ihr Segen wog federleicht. Was haben sie mir, mit Ausnahme von einem oder zweien, eingetragen, als einen glänzenden, langweiligen Abend. – Es ist Frühstückszeit. Der Briefträger schlägt dreimal mit dem Ring des Klopfers an den gusseisernen Löwenkopf, und die zierliche Mary, in weißer Schürze und getolltem Morgenhäubchen, überreicht mir in der nächsten Minute einen feingeränderten Stadtbrief. Welch elegantes Siegel, welch feiner Lack! Ich öffne; auf einer Visitenkarte finde ich die lakonischen Worte: „Mrs. Butler wird am Freitag abend zu Hause sein.“ Der Freitag kommt; es ist neun Uhr abends; ich spring in einen Cab: „Park-Lane“ ruf ich dem Kutscher zu, und eh ich noch die engen Glacehandschuh meinen Fingern angepaßt habe, hält der im schnellsten Trabe fahrende Cab an Ort und Stelle, die Wagentür wird aufgerissen und unter einem zeltartigen Gange, über gelegte Decken hinweg, eil’ ich dem in hundert Lichtern blitzenden Hause zu. Ein dicker Portier ruft meinen Namen, ein Bedienter auf dem ersten Treppenabsatz wiederholt ihn echohaft, ein dritter schreit ihn (natürlich falsch und unverständlich) in den Empfangssaal hinein, und im nächsten Augenblick hat mich der Herr des Hauses bereits an einer Handschuhspitze, um mich der im Parade-Anzug dasitzenden Lady und ihren Küchlein vorzustellen. Einige Salon-Redensarten werden gewechselt, bis ein zweiter, vorzustellender Schwarzfrack mich ablöst und meinem Rückzug in eine der Zimmerecken kein weitres Hindernis im Wege steht. Die Fenster sind hoch, die Gardinen sind blau; der Kronleuchter brennt wie überall und die Virtuosen bleiben nicht aus. Ein Sohn vom Hause beginnt mit einem Burnsschen Liede; man lobt die Komposition, um doch etwas zu loben. Dann nimmt ein Saison-Löwe, ein Violinist ersten Ranges, seine Geige zur Hand und spielt brillant, wie sich von selbst versteht. Es folgen Virtuosen auf allen Instrumenten. In einer der Pausen schüttelt mir der Wirt die Hand und fragt mich, ob ich dem Parlamentsmitgliede für Finsbury vorgestellt zu werden wünsche? Ich drücke ihm mein lebhaftestes Verlangen aus. In demselben Augenblick aber setzen sich die beiden ältesten Töchter an den Polysander-Flügel, um in einem quatre-mains dem anwesenden Virtuosentum ein Paroli zu bieten, und der halb aufgeregte halb besorgte Vater verabschiedet sich, ohne den Kreis meiner Bekanntschaften durch den Vertreter für Finsbury erweitert zu haben. Inzwischen findet eine starke Auswandrung nach einem der Nebensäle statt, und mich auf gut Glück dem allgemeinen Strome überlassend, werde ich endlich an ein Büffet geworfen, das mit seinen Sherry-Karaffen und Selterser-Flaschen zu den erfreulichsten Bekanntschaften des Abends zählt. Hier endlich entdeck’ ich einen Freund, einen deutschen Professor. Er flüstert mir zu: „Wie finden Sie’s?“ schlürft, ohne meine Antwort abzuwarten, eine zweite Tasse Tee hinunter und nimmt mich unterm Arm, um zunächst in der Garderobe, dann über Flur und Treppe hinweg in einem herbeizitierten Cab mit mir zu verschwinden. „Wie langweilig!“ seufz’ ich in das Ohr des Landmanns. „Mitnichten!“ antwortet er gähnend –“Sie werden es schlimmer kennenlernen.“ Und fort rollt der Wagen.

Nach zwei Tagen eine abgegebene Karte und das Lied ist aus. Der Empfehlungsbrief hat seine Schuldigkeit getan. Seine Kraft wirkt nur einmal wie Schießpulver. Der Leser spricht: das ist die große Stadt überhaupt. Gewiß! nur entschiedner, ausgeprägter, ausnahmsloser. Man gibt ein halbes Dutzend ähnlicher Briefe ab und überzeugt sich endlich von der Unabänderlichkeit seines Schicksals. Die Heimat, in nicht rastender Liebe, versorgt uns mit immer neuen rotgesiegelten Reservetruppen, aber der Mut ist hin, um sie ins Feld zu führen. Man empfängt sie lächelnd und fest entschlossen, hinfüro weder sich noch andre zu bemühn, besteigt man um die übliche Visitenstunde statt des Cabs den Steamer, und zwischen London-Bridge und Vaux-Hall auf und nieder fahrend, vergißt man – auf Augenblicke wenigstens – vor der Größe des sich entfaltenden Schauspiels, jenes eine das zum Glücke fehlt – das Menschenherz und seine Liebe.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Ein Sommer in London