Das goldne Kalb.

Spekulation, Rennen und Jagen nach Geld, Hochmut, wenn es erjagt ist, und Verehrung vor dem, der es erjagt hat, der ganze Kultus des goldnen Kalbes ist die große Krankheit des englischen Volkes. Es gibt scharfe Augen, die das Übel wenigstens erkennen und unermüdet darauf hinweisen, wenn auch die Heilung freilich von anderer Seite kommen muß. Unter den Warnerstimmen ist wie immer die der „Times“ voran; – eine Stimme, die – was immer auch über die Käuflichkeit des Blattes gefabelt werden mag – mindestens in allen außerpolitischen Fragen noch ungleich mächtiger ist, als wir im Auslande uns vorstellen. Mit welch’ treffender Entrüstung machte sie noch vor wenig Tagen wieder Front gegen die oberflächliche Art und Weise, mit der man den Prozeß eines Muttermörders behandelt und ohne alles ernste Eingehen ihn für wahnsinnig erklärt hatte. „Hätte es sich um Geld statt um Blut gehandelt, an dem ganzen Gerechtigkeits-Apparat würde kein Rädchen gefehlt haben, aber was vorlag, war nur die Kleinigkeit eines Muttermordes, war eine Sache, durch deren Entscheidung, sie laute so oder so, niemand ärmer oder reicher gemacht wurde, und solche Sachen sind vor Richter und Jury ohne Belang.“ Steh’ es mir frei, in Folgendem eine ähnliche Stimme wiederzugeben.

„Lies dann und wann einen Roman, um die Phantasie abzukühlen“, sagte ein Schriftsteller und Menschenkenner zu einem seiner Freunde, als dieser im Begriff war zu den Antipoden aufzubrechen. Die Weisheit dieses guten Rats wird jeder einsehen, der mehr als dreißig Jahre zählt. Romane mögen die Handlung konzentrieren, das Interesse reizen, das Herz bewegen; die Phantasie zu überwältigen sind sie außerstande. Es ist die Wirklichkeit, was uns staunen macht; die Dichtung darf nicht halb so kühn sein, selbst wenn sie könnte und wollte. Was würde der Leser sagen, wenn wir ihm von einem Manne erzählten, der vor etwa 150 Jahren in England lebte, seine Jugend in Saus und Braus, in Spiel und Liederlichkeit verbrachte und endlich, zum Bettler herabgesunken, Streit mit einem Freunde suchte und im Duell ihn tötete; der, vor Gericht gezogen, des Mordes überführt und zum Tode verurteilt, seine Flucht zu ermöglichen wußte und auf dem Kontinent glücklich angelangt, sein altes Lasterleben fortsetzte und bald eine wohlbekannte Erscheinung in den Spielhäusern Europas ward; der ausgewiesen, erst aus Venedig, dann aus Genua, schließlich selbst aus dem duldsamen Paris, dennoch in die Hauptstadt Frankreichs zurückzukehren wagte, am Spieltisch einem Prinzen von königlichem Geblüt begegnete, seine Freundschaft gewann, sein Geld- und Geschäftsmann wurde und als solcher zu einem Glanz und Ansehn stieg, daß Fürstinnen vor seinem Weibe sich neigten, sein Sohn der Spielgenoß eines Königs, und er selbst der Abgott von Millionen ward? Was sagt der Leser, wenn wir ihm erzählen, daß eine Herzogin, um nur die Möglichkeit eines kurzen Zwiegesprächs mit diesem seltsamen Abenteurer zu haben, ihrem Kutscher befahl, vor dem Palastgitter des großen Mannes umzuwerfen, und daß eine Marquisin an derselben Stelle und zu demselben Zweck „Feuer!“ zu schreien begann. Wenige Monate hatten ausgereicht, den überführten Mörder, den bettelhaften Flüchtling, den verworfenen Spieler zu einem der größten Grundbesitzer Frankreichs zu machen, und hochherzig goß er über sein zweites Vaterland einen trügerischen Reichtum aus, dessen Summen alle Berechnung übersteigen. Aber das glänzende Bild hat eine Kehrseite: der Racheengel harrte schon, vor seinem Atemzuge brach der stolze Bau zusammen und verschwand wie eine Wasserblase. Der Baumeister selbst barg sich in Dunkelheit und rettete das elende Leben vor der Wut derer, die noch eine Stunde früher vor ihm gekniet hatten. Und nun der letzte Akt des Dramas, wie berührt er den Leser? Das Schauspiel schließt, wie es begonnen: wieder ein glückliches Entkommen aus den Händen der Gerechtigkeit, wieder ein wüstes Wandern durch die Welt, ein Warten auf die Brosamen, die vom Spieltisch fallen, und endlich das letzte, das Sterben. Venedig, das er durch seine Gegenwart einst geschändet hatte, ehrte er nun durch seinen Tod. Und nun fragen wir – wenn wir Zeit und Muße hätten, diese Skizze zur Erzählung zu erweitern und jene tausend Einzelheiten zu berichten, worin erst die Kraft und der Zauber jeder Darstellung liegt – wer würde Lust haben, den Einfallen, den „Träumen eines fieberischen Hirns“ zu folgen? Traum meint Ihr?! Leben und Tod John Laws und der Staatsbankerott Frankreichs als ein Resultat seiner kühnen und glänzenden Betrügereien, sind so wirklich, wie das Leben George Hudsons und die Geschichte der Eisenbahn-Spekulation in England.


Und die Geschichte beider ist nicht nur wahr und wirklich, nein, sie bietet auch in merkwürdiger und belehrender Weise Punkte der Ähnlichkeit oder gar völliger Übereinstimmung dar. Beide waren aus Dunkel und Niedrigkeit hervorgegangen, und beide erhoben sich zu einem Glanz, der ein ganzes Land zu blenden und zu willfähriger Huldigung hinzureißen vermochte. Hudson wie Law füllte die Koffer der Leute mit eingebildetem Reichtum, und hoch und niedrig, arm und reich schmiegte sich zu den Füßen des einen wie des andern. Auch Hudson war Spieler, indem er Kredit und guten Namen an ein verzweifeltes Glücksspiel setzte; auch er wußte festen Fuß zu fassen unter den Inhabern des großen Grundbesitzes und zählte zu Freunden und Gefährten, was irgendwie Klang und Namen im ganzen Lande hatte. Auch er machte ein Haus; seine Salons waren der nie leere Altar, da rauf die Goldanbeter Tag um Tag ihren Schmeichel-Weihrauch streuten und die Dankesopfer ihrer Schacherseelen darbrachten, bis plötzlich der Traum endete und der Tag der Rechenschaft anbrach, der nun Flüche brachte aus Kehlen, die noch heiser waren vom Lobgesang, und Mißhandlungen von Händen, die sich einst hochgeehrt gefühlt hatten, auflesen zu dürfen, was von des Herren Tische fiel.

Hundertundfünfzig Jahre haben viel geändert, und es soll nicht geleugnet werden, sie haben dem Ziel und der Aufgabe aller Zivilisation uns nähergebracht. Welche Fortschritte in Wissenschaft und Kunst, welche Allgemeinheit der Bildung, welch erleichterter Gedanken-Austausch innerhalb des einzelnen Volks und zwischen den Völker-Familien! Doch in manchen Stücken sind wir genau, wo wir waren. Zu den Zeiten John Laws suchte man eine Herzogin, die ein Mitglied der königlichen Familie nach Genua begleiten sollte. „Oh, wenn Ihr einer Herzogin bedürft“ – rief der Hof-Kavalier – „so schickt zur Madame Law; dort habt Ihr die Auswahl – sie versammeln sich dort.“ Wäre an einem jener Tage, wo Mrs. Hudson „Freunde“ empfing, plötzlich Nachfrage nach einer Dame von Rang und Stand gewesen, der diensttuende Kammerherr am Hofe von St. James hätte eine ähnliche Antwort geben dürfen, wie vor hundertundfünfzig Jahren sein französischer Kollege. Die Köder und Anziehungskräfte waren 1720 und 1848 genau dieselben, und ob Generationen dahingegangen sind, der Zauber des Goldes, seine magnetische Kraft und seine entwürdigende Herrschaft sind geblieben. Zur Lawschen Zeit stand ein Buckliger in der Rue Quincampoix (wo sein Bankierhaus sich befand) und vermietete seinen Höcker auf Tag und Stunde als Schreibpult. Law ist hin und der Bucklige auch, aber der häßliche Höcker ist geblieben. Lords und Ladies, wohlgeformt wie wir, tragen ihn mit sich herum und schließen Geschäfte darauf ab, die besser ungeschlossen blieben.

Wir sind eine imitative Spezies, Nachahmen ist unser größter Hang, und was die Reichen und Vornehmen tun, das tun wir auch, ohne Kritik, ohne Frage, ob es uns paßt oder nicht. Als Mr. Laws Kutscher die Entdeckung machte, daß sein Herr durch Papierverkauf reich geworden sei, schickte er sich an, mit ins Geschäft zu gehen, und tat’s. Zwei Kommisstellen waren zu besetzen, und der Kutscher-Kompagnon präsentierte zwei Kandidaten. „Wählt“ – rief er seinem Herrn zu – „Ihr habt die Entscheidung, der eine ist für Euch, aber der andere für mich.“ Wie viele Tunichtgute zur Zeit des „Eisenbahnkönigs“ und seiner Herrschaft nahmen sich ein Muster am Kutscher des Mr. Law? Angespornt durch das böse Beispiel ihrer Herren sank ehrliche Arbeit im Preise; „Spekulation“ hieß ihr bequemes und einträglicheres Geschäft; feine Kleider traten an die Stelle des Arbeitsrockes, und statt des ehrlich erworbenen Brotes aß man das Brot lasterhafter Faulheit. So war es und so ist es noch. Kopfschüttelnd sehen wir die ungeheure Kluft zwischen arm und reich, zwischen niedrig- und hochgeboren; aber der Anblick wird trostlos, wenn der Reiche nichts ist als ein emporgekommener Rübenbauer, der mit etwas Goldstaub in der Tasche alles, selbst das Höchste, neben oder gar unter sich zu stellen trachtet und, dem Vogelsteller gleich, mit einer Hand voll Silberkrümel die lieblichsten Sänger des Waldes, selbst die Lerche aus ihrem Himmel zu seinen Füßen zu locken weiß.

Unser gesellschaftliches Leben ist reich an Unglaublichkeiten, für die nichts spricht, als – die Tatsache. Ihr tretet sonntags in eine überfüllte Kirche; kein Platz mehr für euch, und stehend lauscht ihr einer Beredsamkeit, die allsonntäglich diese Räume bis unters Dach zu füllen pflegt. Der Redner ist im höchsten Maße populär und steht sich tausend Pfund. Sein Name ist makellos. Seine Gemeinde verehrt ihn, und um so mehr, je mehr er sie geißelt. Dekane und Bischöfe seines Sprengels sind durchdrungen von seinem Talent und begünstigen es. Seine Lehre und sein Leben stehen gleich hoch. Er sagt euch heut, daß Geiz die Wurzel alles Übels sei; er warnt euch vor dem heißen Verlangen nach Geld und Gut, vor Mißgunst und Unzufriedenheit und ruft euch zu, über die irdischen Güter das himmlische Erbe nicht einzubüßen. Er zitiert euch die Autorität der Bibel, er verweist euch auf Kapitel und Vers, und nachdem er sicher ist, eure Überzeugung für sich zu haben, öffnet er die Tore seiner Beredsamkeit und reißt euch vollends mit sich fort durch die Macht seines Worts. Ihr geht nach Hause, fest entschlossen die neue Woche weiser und besser zu beginnen – da fällt euch die Montagszeitung in die Hand, ihr lest: die Stelle eines Nachmittags-Predigers ist vakant, eine gute Stelle, vierhundert Pfund jährlich und allwöchentlich eine Predigt. Zwei arme Kandidaten haben sich gemeldet, aber es sind noch andere Bewerber da, und obenan lest ihr den Namen eures christlichen Lehrmeisters, trotz aller Glaubenstüchtigkeit, trotz tausend Pfund jährlich und trotz seiner Selbstverleugnungsrede, die euch beinahe vom Pfade des Irrtums abgelenkt hätte.
Ihr seid vielleicht ein Lord, oder der Sohn eines Lords. Parlament und Saison sind geschlossen, und ihr geht aufs Land. Euer Freund, Lord Birmingham, versammelt „einen auserwählten Circle“ auf seinem Landsitz; ihr seid unter den Begünstigten. Es ist Frühstückszeit, ihr tretet ein, die Gäste sind bereits versammelt. Alles ist da, was ihr wollt: ein Herzog, ein Marquis, ein Graf, ein Vicomte und ein Baron. Ihr seid ein jüngerer Sohn und findet es in der Ordnung, daß der Baron den Herzog umschwänzelt. Wir haben hier zwei andere Gäste (wenn es gestattet ist, den stillen, blassen, trostlos dreinschauenden jungen Mann, der wie ein Verurteilter bei der Henkersmahlzeit dasitzt, einen „Gast“ zu nennen),einen Jüngling und einen Mann von vierzig. Von dem ersteren hat jeder zu viel und wünscht ihn weg, an dem letzteren hat keiner genug. Der junge Mann ist eines Landpredigers Sohn und Erzieher von Lord Birminghams Sohn und Erben. Er hat in Cambridge seine Studien gemacht und hofft sich mit der Zeit durchzuschlagen. Er ist aus guter Familie, hat aber keinen Sixpence in der Tasche; sein halbes Gehalt schickt er nach Hause zur Unterstützung seiner Familie, und soviel von der bitteren Arznei: „Wissenschaft und gute Lebensart“ dem Sohn und Erben beizubringen ist, so viel gibt er ihm gewissenhaft. Der Kandidat vertritt „Elternstelle“ seinem Pflegling gegenüber; aber seine Titel, sein Wissen, seine gute Erziehung reichen nicht aus, ihm bei Tisch einen höheren Rang als den eines ersten Bedienten anzuweisen. Ihr kennt diese Art von Stellung und seid nicht erstaunt nach lautlos eingenommener Mahlzeit den blassen Erzieher schattenhaft und unbemerkt verschwinden zu sehen. – Aber hörtet ihr jetzt das Gewieher? Der Vierziger wird heiter und lacht. Ihr seht ihn heute zum erstenmal, aber ihr kennt die Gattung, man sieht sie zu Dutzenden auf dem Viehmarkt in Smithfield. Es ist der berühmte Snobson; vor zehn Jahren stand er noch hinterm Ladentisch (mancher Bessere hat’s auch getan). Spekulation und allerlei sonst noch haben ihn zu einem Millionär gemacht, aber auch zu nichts weiter. Seine Seele ist gemein und seine Zunge fließt über davon. Der niedrigste Diener Mylords ist im Vergleich zu ihm ein König, ein Held. Wenn er sich bewegt, spricht, ißt oder trinkt, so überläuft es euch kalt, denn ihr erwartet jeden Augenblick, daß man ihn auffordern wird, seinen Platz in der Bedientenstube zu nehmen. Ihr fühlt, daß wenn man das Gold von diesem geschmacklosen Prachtbau, der sich „Snobson“ nennt, abkratzen könnte, nichts übrigbleiben würde als die schmutzigste Lehmhütte. Ihr fühlt es, und Lady Birmingham fühlt es auch; dennoch ist sie ganz Ohr und ganz Bewunderung, und alle Ladies ringsum, jung und alt, sind es mit ihr. Die Lords bleiben nicht zurück: der Herzog an der Spitze, alle sind sie stolz auf solche Bekanntschaft, man hat kein Auge für die Gemeinheit dieses Menschen, oder will es nicht haben, und seine Unverschämtheit wird pikant und unterhaltend gefunden. Wie heißt der Schlüssel zu diesem Rätsel? Geld! Und ihr, die ihr von der „Aufgabe“ sprecht, die ihr in der Gesellschaft zu lösen habt, und immer wieder Gewicht legt auf die Pflicht besonderer Rücksichtnahme auf euch selbst, ich frag’ euch, wo bleibt das erste Erfordernis –die Selbstachtung, wenn ihr überfließt von unwürdiger und entehrender Schmeichelei?!

Genug der Beispiele; jeder Tag gibt neue Belege. Wir schätzen nichts so sehr wie Geld, und begierig nach Ehre und Ansehn, setzen wir alles an die Erlangung dessen, was nach unserem Dafürhalten einzig und allein Ehre und Ansehn gibt, und entschlagen uns dabei jeder Tugend, die im Kalender steht. Mr. Guizot, der mit philosophischem Forschergeist den Charakter des englischen Volkes geprüft hat, äußert sich gelegentlich dahin, daß den Fremden nichts so mit Bewunderung vor den englischen Hilfsquellen erfülle, als die unzähligen, aus edlem Herzen und freiem Antrieb hervorgegangenen Stiftungen zur Linderung und Minderung eines vielgestalteten Elends. Der Historiker hätte vielleicht kühner sprechen und sagen dürfen, daß nichts die verschwenderische Freigebigkeit des Engländers überbiete, als die Gier, mit der er die Mittel dazu erwirbt, und daß, wenn es seine Tugend ist liberal mit der Börse zu sein, auch unerträglicher Geldstolz sein Fluch ist. Die Geschichte vom „goldenen Kalb“ in England ist noch nicht geschrieben. Es geht über die Kraft einer Publizisten-Feder, das volle Bild davon zu entwerfen. Ein Genius mag sich dieser Aufgabe bemächtigen und mit dichterischer Gestaltungsgabe ausführen, was wir ihm als flüchtige Skizze überlassen.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Ein Sommer in London