Das Leben ein Sturm.

Glückliches Land im Süden, dessen großer Dichter niederschreiben konnte: „das Leben ein Traum“, und armes, gepriesenes Land du, das du die Seligkeit des Träumens nicht kennst und immer wach und wirklich dein Lehen abhaspelst wie im Sturm. Als ich noch jünger war, da kniet’ ich bewundernd zu den Füßen der Tat, da galt mir das Schwert und der Arm, der es führte, da hing mein Auge an der Kaisergestalt Barbarossas und mein Herz jubelte auf, wenn ich ihn einziehen sah in die Tore Mailands, den Welfentrotz unterm Hufschlag seines Pferdes. Die Knabentage sind dahin. Ich habe seitdem anderes lieben gelernt: den Geist erst, dann das Recht und zuletzt die Muße, die Beschauung, die Vorbereitung auf das, was da kommt. Es ist was in mir, das mich mit unwiderstehlicher Sehnsucht zu dem zerlumpten Lazzarone hinzieht, der an der Tempelschwelle, gebräunt und lächelnd, in den ewig-blauen Himmel emporschaut; es ist was in mir, was mich den Diogenes mehr bewundern läßt, als den Mann, der vor ihm in der Sonne stand, und was – wenn ich zwischen Extremen wählen soll – mir den Orden von La Trappe größer und beneidenswerter erscheinen läßt, als die London-City mit ihrem Leben ein Sturm.

Wir haben ein schönes, vielgesungenes Lied, ein Lied von der „Hoffnung“, drin das Beste was der Mensch hat: seine Sehnsucht nach einem Genüge das jenseits liegt, den dichterischen Ausdruck fand:


Nach einem glücklichen, goldenen Ziel
Sieht man sie rennen und jagen.

Ach, unbewußt und nicht in seinem Sinne schrieb der Dichter in diesen Zeilen die Geschichte und den Fluch dieser Stadt, denn ihr Tagewerk ist „rennen und jagen“, und ihr Ziel ist – Gold; nur eines täuscht sie – das Glück; es neckt sie wie die Spiegelung den Wüstenwanderer, und zu dem Verdurstenden spricht es in seiner letzten Minute: Dein Gold war Sand. Wer löste das große Rätsel von des Menschen Glück, und wer lehrte uns, „wie“ und „wo“ es sicher zu finden? Aber eines fühlt sich: das Menschenglück ruht wo anders, als in der Bank von England. Glück! es ist nicht zu sagen, was du bist, aber es ist zu zeigen, wer dich hat. Der fromme Geistliche hat dich, der, selbst an den Trost glaubend, den er eben noch am Lager eines Sterbenden spendete, nun sinnend durch die Gänge seines Gartens schreitet und Samen in die Beete streut, hoffend auf die ewige Frühlingserfüllung. Glück! der Arzt hat dich, dessen geschickte Hand eine Mutter ihren Kindern wiedergab und der, heimgekehrt zu seinen Büchern, weiter forscht in dem Wald überlieferter Erfahrung. Glück! jene Waschfrau hatte dich, von der uns Chamisso erzählt, die Freude hatte an ihrem selbstgesponnenen Sterbehemd und es sonntags anlegte, wenn sie zur Kirche und Erbauung ging. Glück! es haben dich alle, die eingedenk, daß wir mehr sind als ein galvanisierter Leib, ihrem unsterblichen Teile leben, jeder nach seiner Art.

Dem Menschen ist das Wissen von dem verlorengegangen, was ihm not tut. Eine Krankheit, wie sie die Welt nur einmal sah, als die Pizarros in Blut und Gold erstickten, schüttelt wieder das Menschengeschlecht, und England, London ist der Herd dieses Fiebers. Die Woche verrinnt in rastlosem Mammondienst und der Tag des Herrn ist eitel Lüge und Schein. Mechanisch wandern die Füße in die Kirche, aber die Seele durchjagt schon wieder die City-Straßen und sucht in den Spalten des Börsenberichts nach Gewinn oder Verlust. Wie der König im Hamlet könnte dies Geschlecht ausrufen:

Mein Wort strebt auf, doch unten bleibt mein Herz:
Gebet ohn’ Andacht dringt nicht himmelwärts;

aber Selbsterkenntnis ist nicht ihr zugewogen Teil, und pharisäisch leben sie dem Glauben: sie ständen gut angeschrieben im Kontobuch des Himmels. Trostloses Dasein, das sich teilt zwischen atemlosem Erwerben und zitterndem Erhalten, das, reich oder arm, keine Ruhe, keine Muße kennt, das nachts von Kurszetteln träumt und die schwarze Sorge im Nacken hat bei Wein und Weib, bei Jubel und Gesang. Dies ameisenhafte Schaffen bemächtigt sich der Gemüter mit der Ausschließlichkeit einer fixen Idee und die reiche Menschenseele mit ihren tausend Kräften und Empfindungen kommt in die Tretmühle des Geistes und stapft und stapft. Es fördert vielleicht, nur nicht sich selbst. Des Lebens Reiz verblaßt und die ungeübten Kräfte versagen endlich ihren Dienst. Weihnachten kommt mit seinen roten Backen an Äpfeln und Kindern; verlegen lächelnd steht er vor dem Lichtermeer und denkt an das Meer da draußen, auf dem seine Schiffe tanzen. Ein Jugendfreund kommt; „o ging er wieder!“ist alles, was er fühlt. Seine Schwester stirbt; er erbricht den schwarzgeränderten Brief und liest und kann nicht weinen. Spät nachts wirft er sich aufs Lager, die Erinnerung ärmerer Tage beschleicht ihn, er sieht sich wieder spielen in seines Vaters Garten und – die Träne kommt. Aber sie gilt nicht der toten Schwester, sie gilt ihm selbst.

Glückliches Volk im Süden, das lacht und träumt! Armes, reiches Volk mit deinem Leben ein Sturm.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Ein Sommer in London