Alte Helden, neue Siege.

Ich kam von Dulwich. Der Leser kann nicht bereitwilliger sein zu fragen: „Was ist Dulwich?“ als ich geneigt bin, ihm darauf zu antworten. Dulwich ist eine Art Schönhausen, ein freundliches Dorf mit Park und Wiesen, mit hohen Ulmen am Weg und Spalierrosen an den Häusern, mit einem Schulgebäude im Königin-Elisabeth-Stil und einer Bildergalerie als Zugabe. Diese hatten wir besucht. Es ist bekannt, daß die englischen Galerien hinter denen des Kontinents zurückbleiben und in der Tat, es sollte einem schwer werden, hier den Rubens unbedingt lieben zu lernen, oder gar den Tizian als das zu begreifen, was er ist. Mit Ausnahme von einem halben Dutzend Murillos, worin sich die Galerien von London und Dulwich brüderlich teilen, fehlen überall die Gemälde ersten Ranges. Man begegnet Raffaels, Correggios, Tizians und selbst (ungenießbaren) Michelangelos, aber sie blicken zum Teil so trübselig drein, als hätte man sie nur aufgestellt um das Register berühmter Namen vollständig zu haben. Dennoch haben diese englischen Galerien ihren Reiz und ihr Verdienst. Wenn es ihnen versagt blieb, das Beste der großen italienischen Meister unsern Sinnen näher zu führen, so bieten sie doch stets ein Besonderes und Charakteristisches dar und man verläßt kaum eine derselben ohne das Gefühl: über diesen oder jenen Namen erst jetzt den rechten Aufschluß gewonnen zu haben. So hat die Vernon-Galerie (eine Sammlung ausschließlich englischer Meister) ihren Hogarth und David Wilkie; so hat die National-Galerie ihren Claude Lorrain; so haben die Säle in Hampton-Court ihre seltsamen halb lächerlichen, halb klassischen Holbeins und so hat die Dulwich-Sammlung ihre braunen Poussins. Schade, daß sich einige von der Herde in die Räume der National-Galerie verirrt haben und dort, ohnehin an unrechter Stelle, neben den Madonnas, ihre bacchantisch-sinnlichen Tänze tanzen. Könnte man sich entschließen diese mit genialer Ockerverschwendung gemalten Satyrleiber, die, grinsend, schlafende Nymphen belauschen, oder lüsternd sie umschleichen – der Dulwich-Galerie einzuverleiben, man würde eine Poussin-Sammlung haben, wie sie nicht besser gewünscht werden könnte. Dies Anstreben einer wenigstens einseitigen Vollständigkeit – ein Zug, der überhaupt das englische Wesen charakterisiert – ist’s, was der Mehrzahl dieser Galerien einen Wert verleiht, den sie anderweitig nicht beanspruchen könnten, und was einen praktischen Takt bekundet, der vielen unsrer kontinentalen Bildersammler als Richtschnur dienen sollte. Es ist alter Weisheitspruch: nur das Erreichbare zu wollen. Wessen Mittel nicht ausreichen die Weltgeschichte zu umfassen, der macht sich nützlicher, wenn er die Chroniken von Müncheberg oder Treuenbrietzen studiert, als wenn er die römischen Kaiser mechanisch auswendig lernt; und reiche Bankiers, die gewissenhaft mit einem Prozent ihres jährlichen Überschusses „der Kunst aufhelfen wollen“, tun besser eine Sammlung von Meyerheims, Koekkoeks oder Jordaens an den Wänden zu haben, als das „Sümmchen“ an einen zweifelhaften Tizian, wie z.B. „Venus und Adonis“, zu setzen, wovon, wie ich glaube, sieben echte Exemplare existieren.

Ich kam also von Dulwich; und in die Omnibus-Ecke gedrückt versuchte ich zu schlafen. Aber umsonst! Wer kennte nicht jenen unbehaglichen Zustand, wo der abgespannte Körper keine Freude am Wachen hat und der Geist zu aufgeregt ist, um uns das Schlafen zu erlauben. Die alten bewährten Mittel: bis hundert zählen, und Meilensteine Revue passieren lassen waren bereits erfolglos durchprobiert, so deklamierte ich denn in humoristischem Ärger:


„Schlaf, holder Schlaf,
Des Menschen zarte Amme, sag, was tat ich,
Daß du mein Auge nicht mehr schließen willst
Und meine Sinne in Vergessen tauchen.“

Aber auch die rührende Bitte König Heinrichs fand kein Ohr und ließ den Knicker Morpheus kein Körnchen Mohn aus seiner Kapsel fallen. Ein Engländer neben mir las die „Times“. Einen Augenblick war ich geneigt ihn zu beneiden und fest entschlossen mich an der nächsten Ecke nach ähnlicher Lektüre umzutun, aber noch rechtzeitig ward ich andern Sinnes. Zwei „Times“ lesende Omnibus-Nachbarn sind gerade so ein Ding der Unmöglichkeit, wie zwei Freunde, die Arm in Arm gehen und jeder einen Familien-Regenschirm aufspannen wollen. So sah ich denn über die nachbarliche Zeitung hinweg und begnügte mich damit, die ringsherum geklebten Omnibus-Annoncen: „letzte Woche von Albert Smiths Besteigung des Mont-Blanc“; „Websters wohlriechende Sparsamkeits-Nachtlichte“; „Surrey-Theater! Unerhörter Triumph! Balfes neue Oper: „Der Teufel sitzt drin!“ (The devil is in it) mit Schlußfeuerwerk“ – zum hundertsten Male durchzustudieren. Man male sich mein Erstaunen, als ich unter den alten Bekannten plötzlich einen Fremden gewahrte, der mir in rot und blauen Buchstaben zurief: „Kricket!! Wettspiel zwischen elf Greenwich-Pensionären mit einem Arm und elf Chelsea-Pensionären mit einem Bein. Eintrittspreis: Sixpence. Ort: Kennington-Oval.“ Das war was nach meinen Geschmack; von Müdigkeit keine Spur mehr: an Vauxhall-Bridge ließ ich halten und hatte die eine Sorge nur, vielleicht zu spät zu kommen; denn die Sonne stand bereits tief am Himmel.

Während ich rasch zuschritt, nahm meine Besorgnis freilich bald eine andere Gestalt an. Mir fiel ein Gedicht, halb Lied halb Ballade ein, das eine ähnliche Situation behandelt wie die, der ich zuschritt; und während das Mißbehagen wieder lebendig in mir wurde, mit dem ich das sonst zierlich und reizend gearbeitete Gedicht stets betrachtet hatte, stand ich einen Augenblick auf dem Punkte, das seltsame Schauspiel dran zu geben. Jene Ballade spricht von einem alten Stelzfuß, dereinst Schillscher Husar und mit unter den Kämpfern von Stralsund – nun im geflickten Kollett inmitten der Jahrmarktsbuden steht und vergnüglich dem Karussellspiel der Kinder zuschaut. Die türkische Musik wird wilder, die hölzernen Pferde drehen sich rascher, die Kinder jubeln lauter und siehe da, das alte Husarenherz wird wie von alter Zeit berührt, und Spiel und Wirklichkeit zusammenwürfelnd, schwingt er sich auf eines der fliegenden Pferde und „jagt hinein in vergangenes Glück“. In glatten Versen macht sich so was recht gut, aber des Pudels Kern wollte mir nimmer behagen. Das Alter wird kindisch; gewiß! aber ich mag diese Wahrheit an keinem Schillschen Husaren demonstriert sehen. Nichts trostloser, als heruntergekommene Ehre oder gar kindisch gewordener Ruhm.

Das waren meine Gedanken als ich in das Kennington-Oval, eine ringsum eingezäunte, wunderschöne Parkwiese eintrat. Ein Blick auf das Spiel, und alle meine Bedenken waren dahin. Das war kein kindisches Wesen, keine verzerrte Lust, das war die Heiterkeit, die den Mann ziert, und ihn doppelt ziert, wenn er ein Held. Das ganze Schauspiel bot den Anblick eines Amphitheaters. Stühle und Bänke waren der erste Rang, der, von mehr als tausend geputzten Menschen besetzt, sich in weitem Kreis um die Spielenden herumzog; der Bretterzaun bildete die zweite Galerie, darauf die abgeschworenen Feinde des Entreezahlens in bekannter Reiter-Attitüde saßen, jeden Augenblick zur Flucht bereit; und endlich über den ganzen Schauplatz hinweg, blickten ringsumher die Häuser und Balkone, auf denen die Ladies standen und bald auf das Spiel, bald in die untergehende Sonne schauten. Es war unendlich lieblich, und ein mäßiger Trompeten-Virtuos, der seine Stückchen in die Abendluft hineinblies, gab der ganzen Szene etwas von dem Zauber, den die Klänge unseres lieben, gestorbenen Posthorns über jede Landschaft auszugießen wußten.

So war die Szene; wie aber standen Spiel und Spieler? Die Entscheidung war nah, die nächsten Minuten mußten zeigen, wer Sieger sein sollte: Greenwich oder Chelsea. Die Chelseamänner, in ihren langen Röcken von englisch-rotem Tuch, standen um drei Nummern besser, aber die Männer von Greenwich mit ihren matrosenblauen Jacken und dem ehrwürdigen Dreimaster auf dem Kopf, waren am Spiel und ein guter Treffer konnte den Sieg wieder auf ihre Seite bringen. Viele hatten ihre Hüte zur Erde geworfen und das spärliche weiße Haar der Greise flatterte im Winde. Es waren fast lauter Siebziger: bemooste Häupter von Trafalgar und selbst von Abukir, und wer seinen Arm bei Navarino gelassen hatte, war nur ein Fuchs. Da standen nun die alten Schöpfer und Träger britischen Ruhms, kaum minder eifrig als an Bord der Dreidecker, wenn die berühmte Enterbrücke Nelsons fiel; und Matrose und Soldat, die so oft gemeinschaftlich ihre Hände nach dem Kranz des Ruhmes ausgestreckt hatten, hier standen sie sich blitzenden Auges einander gegenüber und forderten ihn jeder für sich. Wie gesagt, Greenwich war am Spiel, und ein Alter mit einem Arm und einem Bein*) (ein völliger Krüppel und doch ein ganzer Mann) stand, die Kelle fest in der Hand und kein Auge von seinem Gegner lassend, vor den drei Gitterstäbchen seines Spiels und parierte den anfliegenden Ball mit sichrem Blick und fester Hand. Dreimal hatte er ihn zurückgeschlagen, aber nicht weit genug, um mit seinem Stelzfuß den Hin- und Herlauf, den das Spiel vorschreibt, zu wagen; aber jetzt, beim vierten Schlage, war das Glück mit ihm und mit der Ehre von Greenwich. Weit über das Feld flog der Ball und schnell berechnend, daß er den vorgeschriebenen Weg werde dreimal zurücklegen können, setzte er sich jetzt, auf und ab, in Geschwindschritt. Aber an einem Haare hing der Sieg: ehe er zum dritten Male die Stäbe erreichen konnte, war sein Gegner (den er unterschätzt haben mochte) dem Ziele näher als er selbst. Was tun? Greenwich schien verloren; da sieh, mit schneller Geistesgegenwart warf sich der Alte zur Erde nieder und schon im Fallen die Kelle vorstreckend, durchmaß er im Nu die acht Fuß Entfernung, die ihn noch von den Gitterstäben trennten. Nicht er, aber die äußerste Spitze seines Holzes war am Ziel. Ein Beifallssturm erhöh sich ringsum; auf den Baikonen winkten die Damen mit ihren weißen Tüchern und die unermüdliche Trompete schmetterte Tusch. – Das Spiel war aus und Greenwich Sieger.

Aber das wäre ein schlechtes englisches Fest, das nicht ein Festmahl hätte! Geschäftige Hände schleppten Eichentische herbei, Kellner und Mägde trugen Beef und Pudding in dampfenden Schüsseln auf, und ehe zehn Minuten vorüber waren, saßen die Gegner in bunter Reihe am Tisch, schwatzend wie am Wachtfeuer nach schwergetaner Kriegesarbeit, und schwenkten die Zinnkrüge, auf die das weiße Licht des Mondes fiel. „Die Königin hoch! Die Flotte hoch!“ ging’s im Kreise herum; weiter vernahm ich nichts, denn leichte Wolken hatten sich inzwischen über den Mond gelagert und aus dem nachbarlichen Garten von Vauxhall stiegen zischend drei Raketen in die Luft. Mein Auge hatte nicht Zeit, sich von seinem Staunen zu erholen, denn plötzlich flammte, unter Blitzen und Knattern, der ganze Garten auf; Schwärmer und Feuerräder, Sonnen- und Bienenkörbe; – es war als flöge der „l’Orient“ zum zweiten Male in die Luft.

An den Eichentischen aber saßen bei Porter und Ale die Helden jenes Tags und manches andren, unangefochten von der Erinnerung an sich selbst; denn der Mensch vergißt alles: seine Liebe, wie seinen Haß, und selbst auch – seinen Ruhm.



*) Das Spiel lautete: „elf mit einem Bein gegen elf mit einem Arm“; es blieb indes jeder Partei unbenommen, sich mit weniger Gliedmaßen zu begnügen, weil begreiflicherweise die Chance des Gegners dadurch wuchs.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Ein Sommer in London