Der Staatsfeind und die ewige Arbeit

Irgendwo zwischen Zwiahel und Shitomir steht ein junger Mann am Wegesrand und gibt uns schüchterne Zeichen. Wir halten an und nehmen ihn mit. Er ist 21 Jahre alt und heißt Nikolai Wladimir Shimansky. Von seinen 21 Jahren hat er bereits drei Jahre und zwei Monate im Gefängnis gesessen. Und das kam so:

Im Sommer 1936 wurden sein Vater, seine Mutter und er selbst wegen staatsfeindlicher Haltung zu Zwangsarbeit nach dem Norden Russlands verbannt. Die staatsfeindliche Haltung bestand nach seinen Angaben darin, dass sein Vater als Oberhaupt der Familie nicht regelmäßig die Versammlungen der Partei besuchte. Sein Vater starb nach einiger Zeit, seine Mutter kam in ein besonderes Lager für Frauen, und ihm selbst gelang es mit vieler Mühe, zu entfliehen und sich auf abenteuerliche Art und Weise langsam bis in die Gegend seines Dorfes durchzuschlagen. Seine Schwester hielt ihn dort verborgen, aber eines Tages wurde er trotzdem entdeckt und sofort eingesperrt. Das war vor drei Jahren und etwa sechs Monaten.


Während der ganzen Zeit klopfte er Steine oder verrichtete andere schwere Straßenarbeiten am Bau der von mir schon einmal erwähnten Verbindung Lemberg-Kiew. Die reine Arbeitszeit betrug täglich zehn Stunden. Irgendwelchen Lohn erhielt er nicht, sondern nur Verpflegung. Diese Verpflegung blieb jahraus, jahrein, ohne Rücksicht auf die ändernden Witterungsverhältnisse, die gleiche und betrug bei hundertprozentiger Arbeitsleistung 1.000 Gramm Brot, 75 Gramm Fleisch, 25 Gramm Zucker und 12 Gramm Fett täglich. Die 12 Gramm Fett wurden der Suppe beigemengt.

In diesem Zusammenhang kann vielleicht gleich erwähnt werden, dass die bolschewistische Woche — den Begriff der Woche als solche gibt es überhaupt nicht — zehn Tage zählt. Weil der Sonntag im Prinzip eine religiöse Einrichtung ist, haben ihn die Kommunisten abgeschafft und durch einen „Ausgangstag" ersetzt. Dieser Ausgangstag ist aber nicht etwa für ganz Russland als allgemeiner Ausgangstag festgelegt, sondern er wird dem Arbeiter und der Arbeiterin unter Berücksichtigung der Notwendigkeiten eines Betriebes vorgeschrieben.

Mit diesem System wird praktisch ein Zustand „ewiger Arbeit" geschaffen. Tag und Nacht laufen die Maschinen, Tag und Nacht stecken die Menschen im Arbeitskleid. Jeder Betrieb gibt täglich einfach eine gewisse Anzahl von Arbeitskräften frei, aber im allgemeinen nie mehr als neun bis zehn Prozent, so dass die Fabrik jahraus, jahrein auf gleichen Touren weiterläuft.

Es liegt ganz in der Hand des Kolchos- oder Sowchosleiters, wann er im Interesse seiner Gemeinde oder seiner Fabrik den Leuten freigeben will. Es fällt den einzelnen Genossen Betriebsleitern gar nicht ein, menschliche Rücksichten walten zu lassen. Das können sie auch gar nicht, weil ja die Direktiven von oben kommen. Auch der Genosse Direktor ist diesen Gesetzen unterworfen und auch er hat — wenigstens theoretisch — nur seinen gewöhnlichen Ausgangstag.

Es ist verständlich, wenn unter diesen Umständen Zustände geschaffen wurden, die das gesamte Familienleben auseinanderrissen. Ich habe mit Männern und Frauen gesprochen, die in langen Jahren nicht einmal einen einzigen Tag mit ihrem Gatten zusammenlebten. Immer war der Ausgangstag des Mannes anders angesetzt als der seiner Frau. Wenn möglich auch noch anders als der des Sohnes, der Tochter oder aller Kinder zusammen. Sehen konnten sie sich nur am Abend und in der Nacht. Die von den einzelnen Personen gestellten Ansuchen mit der Bitte, diesem Zustand ein Ende zu setzen und den Ausgangstag aus familiären Gründen um einen oder zwei Tage vor oder zurück zu verlegen, wurden von den zuständigen Stellen nur in den wenigsten Fallen berücksichtigt.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Ein Schweizer Journalist sieht Russland