Das Kirchenproblem in sowjetrussischer Beleuchtung

Ich möchte dieses Kapitel, in dem ich zum ersten Male die Kirchenfrage angeschnitten habe, nicht abschließen, ohne einige russische Pressestimmen wiederzugeben, die in eindeutiger Weise klarlegen, wie man in den führenden Schichten der bolschewistischen Intelligenz darüber denkt. Es scheint mir dies aus zwei Gründen notwendig: Einmal, um mir vor skeptischen Lesern ein Alibi und einen Wahrheitsbeweis für meine eigenen Beobachtungen zu verschaffen, und zum zweiten, um wenigstens diejenigen Personen, die dieses Buch lesen, wiederum daran zu erinnern, — falls sie es unter dem Drucke der letzten politischen Ereignisse vergessen haben sollten — dass die antireligiöse Haltung der Union der Vereinigten Sowjet-Republiken in Hunderttausenden von Veröffentlichungen und Reden und in Millionen von handgreiflichen Tatsachen derartig eindeutig und klar zum Ausdruck gebracht wurde, dass man sich wundern muss, wenn in einigen Hauptstädten der Welt plötzlich eine Propaganda einsetzt, die den Versuch unternimmt, die ganze Angelegenheit nur deshalb zu bagatellisieren, weil es augenblicklich in die politisch-diplomatische Linie hineinpasst.

O ja, ich weiß! Zur Zeit der „allvölkischen" Besprechung des Projektes der Stalinschen Konstitution in den UdSSR hat manch einer der Delegierten vorgeschlagen, die Ausübung der religiösen Handlungen zu verbieten, aber auf der außerordentlichen VIII. allunierten Zusammenkunft der Sowjets wies dann Stalin darauf hin, dieser Vorschlag sei zu verwerfen, da er dem Geiste der UdSSR und ihrer Konstitution nicht entspreche. In der Stalinschen Konstitution steht nämlich geschrieben, dass die Freiheit in der Ausübung der religiösen Kulte und die Freiheit der antireligiösen Propaganda allen Bürgern als ihr unbestreitbares Recht zugebilligt wird.


Es sieht also so aus, als ob es in Russland doch noch so etwas wie eine Religionsfreiheit gäbe, aber es sieht nur so aus, denn jeder klar denkende Mensch kann sich an den fünf Fingern abzählen, wie der Satz: „Freiheit in der Ausübung des religiösen Kultus und Freiheit in der Ausübung der antireligiösen Propaganda" in diesem Falle ausgelegt werden muss. Die Macht liegt ja beim Staate und deshalb kann es ihm nicht schwer fallen, seine „Freiheit der antireligiösen Propaganda" in einem Ausmaße in die Tat umzusetzen und in einer Art zu formulieren, dass demgegenüber jede vom Bürger beanspruchte „Freiheit in der Ausübung der religiösen Kulte" als Auflehnung gegen die Staatsinteressen ausgelegt werden kann und wird. Ganz abgesehen von der Unmöglichkeit des Volkes, einer mit allen Mitteln betriebenen staatlichen Gottlosen-Propaganda etwas auch nur annähernd Gleichwertiges gegenüberzusetzen.

Aber sehen wir zu, was Genosse P. Fedosejew in seinem am 20. März 1940 in der „Prawda" erschienenen Artikel „Lenin und Stalin über die Religion" zum Ausdruck brachte. Als Motto war diesem Aufsatz eine Bemerkung vorausgesetzt, die Stalin vor einigen Jahren zum besten gab und in der er kurz und bündig erklärte: „Bis zum 1. Mai 1937 müssen in der Sowjet-Union alle Kirchen verschwinden und der Begriff Gott soll über die Sowjet-Grenzen verjagt werden als ein Überbleibsel des Mittelalters, welches lediglich zur Knechtung der Volksmassen dient."

Ich habe den Eindruck, diese Worte, vom obersten Staatsführer eines Millionenreiches ausgesprochen, sind um so deutlicher, als die Methoden, die in Russland zur Erreichung der gesetzten Ziele angewandt werden, in der Welt hinlänglich bekannt sind.

In dem zitierten Artikel aber, den ich auszugsweise wiedergebe, wird in wörtlicher Übersetzung folgendes ausgeführt:

„Lenin und Stalin, die Gründer und Führer des Bolschewismus, die den revolutionären Kampf des internationalen Proletariats gegen den Imperialismus anführten, haben die Ideologie des verwesenden Kapitalismus in allen seinen Offenbarungen einer vernichtenden Kritik unterzogen. Indem sie die revolutionäre Theorie von Marx verteidigten und weiter entwickelten, führten Lenin und Stalin stets einen erbitterten Kampf gegen den Idealismus, Mystik und Obskurantismus, gegen Religion und Kirche.

Sie haben wissenschaftlich bewiesen, dass alle Religionen und alle religiösen Organisationen in ihrer Wurzel den Interessen der werktätigen Massen schaden. Sie haben gezeigt, dass die Religion genau so wie andere Erscheinungen der Ideologie des in Verwesung geratenen Kapitalismus in bestimmten Bedingungen des materiellen Lebens der Gesellschaft wurzeln. Der Marxismus-Leninismus lehrt, dass die Religion eine geschichtlich vorübergehende Erscheinung ist und dass ihre Existenz nicht ewig sei. Indem Genosse Stalin die Ausspruche von Marx, Engels und Lenin über die sozialen Wurzeln der Religion weiterentwickelte, unterstrich er, dass die Grundlage von religiösen Vorurteilen in der sozialen Unterdrückung, Verzweiflung und Erniedrigung der unterjochten Massen des Volkes liegt . . .

Den Standpunkt der Partei in der Religionsfrage hat Lenin allseitig in seinem Artikel ,Sozialismus und Religion' auseinandergesetzt: ,Wir verlangen, dass die Religion eine private Angelegenheit in ihrer Beziehung zum Staate wird, aber wir können unmöglich die Religion als eine Privatangelegenheit in Bezug auf unsere eigene Partei ansehen.'

Die Opportunisten der II. Internationale (gemeint sind die russischen Menschewiki) haben die Lösung, die Religion ist eine Privatangelegenheit' in dem Sinne ausgelegt, dass die Religion auch eine Privatangelegenheit in Bezug auf die Partei darstelle. Lenin und Stalin haben dieser opportunistischen Verdrehung des Marxismus schroffen Bescheid gegeben. Sie haben erklärt, dass die Partei in Bezug auf das Verhältnis zur Religion nicht neutral bleiben könne, dass sie sich nicht gleichgültig gegenüber den religiösen Vorurteilen der Dunkelheit und der Unwissenheit verhalten kann.

Indem er den Inhalt der Losung der Gewissensfreiheit und der Religionsfreiheit erläuterte, wies Genosse Stalin darauf hin, dass die Partei das Recht aller Bürger, aller Nationen, sich zu einer beliebigen Religion zu bekennen, verteidigt, aber gleichzeitig gegen alle Arten der Religion kämpft. Die Sozialdemokratie, schreibt er, wird stets gegen die Verfolgung des Katholizismus und des Protestantismus protestieren, sie wird stets das Recht der Nationen, sich zu einer beliebigen Religion zu bekennen, verteidigen, aber gleichzeitig wird sie, von der richtigen Erfassung der Interessen des Proletariats ausgehend, stets gegen den Katholizismus, Protestantismus und andere Religionen agitieren, um sich dadurch einen Triumph für die sozialistische Weltanschauung zu verschaffen.

. . . Beim flüchtigen Hinsehen kann es scheinen, dass in dieser Stellungnahme ein Widerspruch enthalten ist. Man muss sich f ragen, wie ist es möglich, sich zu einer Religion zu bekennen, sie zu verteidigen und gleichzeitig gegen jede Religion zu kämpfen? Das ist aber nur ein scheinbarer Widerspruch, und er ist nur für alle metaphysisch denkenden Menschen unbegreiflich. In Wirklichkeit besteht hier eine innerlich unzertrennbare Verbindung, die Einigung des demokratischen Verlangens nach Gewissensfreiheit, das Verlangen der Liquidierung des Polizeizwanges in Glaubensangelegenheiten und die sozialistische Aufgabe einer vollen Oberwindung der religiösen Vorurteile.

Deshalb hat die bolschewistische Partei sich zur Verwirklichung der vollen Gewissensfreiheit nicht nur mit einer Scheidung der Kirche vom Staat begnügt, sondern sich die Aufgabe der vollen Oberwindung der Religion unter radikaler Ausrottung der religiösen Vorurteile gestellt.

Eine offene Auslegung des Standpunktes der bolschewistischen Partei in der Frage des Kampf es gegen die Religion gab Genosse Stalin in seinem Gespräch mit der ersten amerikanischen Arbeiter-Delegation, die in Moskau eingetroffen ist. Indem er entschieden alle Versuche, den Kommunismus mit der Religion zu verbinden, ablehnte, wies Genosse Stalin darauf hin, dass es solche Menschen nicht gäbe, die religiöse Ansichten unterstützten und gleichzeitig gute Kommunisten seien.

Deshalb kann unsere Partei in Bezug auf die Religion nicht neutral sein. Sie führt und sie wird immer weiter eine wissenschaftlich antireligiöse Propaganda führen. „Indem wir die Scheidung der Kirche vom Staat durchsetzten und die Freiheit der Glaubensbekenntnisse ausriefen“, sagte Genosse Stalin, „haben wir gleichzeitig jedem Burger das Recht gegeben, auf dem Wege der Überzeugung, auf dem Wege der Propaganda und Agitation gegen jegliche Religion zu kämpfen."

So schrieb Genosse Fedosejew in der „Prawda".

Um noch ein Beispiel zu geben, was die Sowjets unter „Freiheit antireligiöser Propaganda" verstehen, bringe ich abschließend noch einen anderen Artikel dieser Zeitung vom 11. Mai 1940:

„Der Leninismus lehrt, dass in der exploitierenden Klassengesellschaft ein völliger und endgültiger Abgang der internationalen Werktätigen von der Religion nur schwer möglich ist. Die Religion ist hier in der wirtschaftlichen Grundlage tief verwurzelt. Bei uns im Lande des Sozialismus sind aber diese Wurzeln vollkommen liquidiert, die parasitischen Klassen vernichtet und mit ihnen die Exploitierung des Menschen durch den Menschen. Liquidiert ist die Klassenunterjochung und auch der Privatbesitz der Produktionsmittel. Dank alledem hat der Abgang der Werktätigen von der Religion bei uns einen in der Geschichte noch nie dagewesenen Umfang angenommen. Der Prozess der Ausrottung religiöser Glauben dringt immer tiefer ein und umfasst immer breitere Massen. Die UdSSR hat das Recht, sich ein Land des kämpferischen Atheismus zu nennen.

Schon erscheint die Religion in unserem Lande im Bewusstsein der Menschen als eines der schwersten Überbleibsel des Kapitalismus, In den verflossenen zwei Jahren hat z. B. die Union der Gottlosen in der Ukraine eine bedeutende und ersprießliche Propagandaarbeit durchgeführt. Die Zahl der Mitglieder des Bundes der „kämpferischen Gottlosen“ hat sich in diesem Zeitabschnitt um 6 1/2 mal vergrößert, und die Anzahl der ursprünglichen Organisationen stieg auf das Fünffache. Das ist eine große Macht. Im letzten Jahr sind in der Ukraine mehr als 65.000 Vorträge, Vorlesungen und Versammlungen über anti-religiöse Themen gehalten worden. In diesem Sinne ist es die Pflicht jeder Parteiorganisation überhaupt, die Zellen der Gottlosen bei der Realisierung antireligiöser Entscheidungen zu unterstützen und ihnen zu helfen, das Niveau ihrer im Staatsinteresse durchgeführten Propaganda zu fördern.

. . . Die kommunistische Erziehung der Werktätigen ist eine der grundlegenden Aufgaben unserer Partei. In dem System der kommunistischen Erziehung der Werktätigen der UdSSR nimmt deshalb eine wichtige Stelle die antireligiöse Propaganda ein, der Kampf gegen die religiöse Betäubung des Bewusstseins des Menschen, der Kampf gegen den Aberglauben und der Kampf gegen die Gewohnheiten und Traditionen, die den Menschen durch Jahrhunderte eingeimpft wurden.

Im Land der Sowjets ist die Religion ein Überbleibsel geworden, das weder in der Wirtschaft, noch in der Gemeinschaftsordnung wurzelt. Der größte Teil der Bevölkerung hat für immer damit abgeschlossen, hat sich für immer von ihrem Einfluss befreit.

Mit tausend Faden umgarnen die Anhänger der Kirche und die Sektierer die willensschwachen Menschen. Der Besuch der Kirchen, die Taufe der Kinder, das Feiern von ,Ostern' und ,Weihnachten' oder anderer religiöser Feste — das alles vergiftet das Bewusstsein. Leider gibt es nicht wenig Menschen in unserem Land, die noch an ein Schicksal glauben, an Wahrsagerei, an Talismane und Traum. Diese Menschen verstehen nicht, dass die Religion den Wert der Persönlichkeit erniedrigt, und sie in der Gefangenschaft von Vorurteilen, Sitten und Gebrauchen halt, sie zum Sklaven der Kirche macht und damit sein kulturelles Wachstum stört. Die Religion erzeugt in dem Menschen die Stimmung der Kraftlosigkeit, Passivität, und sie schläfert die revolutionäre Wachsamkeit ein. Um die antireligiöse Propaganda erfolgreich durchzuführen, müssen vor allem die Jungkommunisten gewappnet sein; denn es genügt nicht, zu erklären: ,es gibt keinen Gott', — man muss es auch beweisen können. Eine besondere Aufmerksamkeit wird deshalb der antireligiösen Erziehung in den Schulen gewidmet. Das reaktionäre Wesen der Religion und ihre Schädlichkeit können und müssen sich die Schüler in den Unterrichtstunden der Geschichte, Chemie, Physik, Biologie, Geographie und Botanik einprägen.

. . . Rundfunk, Kino, Druck, Vorträge, Belehrungen — das ganze Arsenal der bolschewistischen Propaganda und Agitation muss systematisch ausgenutzt werden, und zwar noch viel besser als bisher. Dabei ist vor allem darauf zu achten, dass die antireligiöse Propaganda ununterbrochen durchgeführt wird und nicht nur von Fall zu Fall, nicht nur, wie das bei uns bedauerlicherweise geschieht, lediglich um ,Weihnachten’ und ,Ostern’.

Jeder Vertreter der fortschrittlichen sowjetischen Wissenschaft, jeder Künstler, Schriftsteller, Dramaturg und Dichter kann und muss, indem er an der antireligiösen Arbeit teilnimmt, eine große Hilfe der Partei bei ihrer Umerziehung derjenigen Menschen sein, die noch von dem Gift der Religion infiziert sind.

Man muss den Zustand erreichen, dass alle Bürger der Sowjet-Union verstehen, wie sehr die ,Aufhebung der Religion als eines illusorischen Glückes des Volkes das Verlangen nach seinem tatsachlichen Glück ist’ (Karl Marx). Nach dem Glück des Kommunismus, das die endgültige Vernichtung der religiösen Überbleibsel im Bewusstsein der Menschen unserer siegreichen Bewegung in ihrer Zielsetzung beschleunigen wird."
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Ein Schweizer Journalist sieht Russland