Über die alte Grenze

Am nächsten Morgen fahren wir in der Richtung auf Korzez, dem letzten Städtchen im ehemaligen Polen, und obwohl gar nichts zu erwarten ist, legt sich etwas wie Spannung auf mein Gemüt. Nun fahre ich also gegen das alte, wirkliche Russland. Die Sonne scheint warm, und der Schnee auf der Straße schmilzt bereits dahin. Nur auf den Äckern liegt er noch wie dünner Flaum.

Alle von uns sind ein wenig aufgeregt. Als ob etwas passieren wurde. Aber es passiert gar nichts. Die Straße bleibt dieselbe, die Sonne scheint auch vor uns, und auch dort drüben am Horizont liegt der Schnee auf den kahlen Feldern.


Unten, in einer Mulde, verläuft die Grenze, die ehemalige Grenze, und wenn wir es nicht wüssten, konnten wir es nicht ahnen. Denn zu sehen ist nichts. Noch zehn Meter fahren wir, noch fünf, noch zwei . . .

Jetzt sind wir im bolschewistischen Russland.

Vier primitive Steinhäuser mit je einem Fenster stehen als Erinnerung an die Zeiten vor dem bolschewistischen Einmarsch in Polen als Zollhäuser am Rande der Straße, und auf der andern Seite liegen gleichsam als Zeichen dafür, dass der Krieg auch hier weitergeht, zwei russische Tanks. Vier deutsche Soldaten stehen in einem Acker und reparieren eine Telefonleitung.

Ja, diese Äcker und diese Felder! Sie sind die größten, die ich' je in meinem Leben gesehen habe, aber lange nicht so groß wie andere, denen ich noch begegnen werde.

Genau an der Grenze entlang beginnen diese unendlichen Kolchosenfelder, und kein Feldweg und nicht einmal ein Pfad unterbricht das gleichmäßige Bild. Alles, was ich von nun an erblicke, ist das Gemeingut ganzer Dörfer, und alle Arbeiten, die auf den Feldern geleistet werden, sind die Arbeiten eines für alle und aller für . . . den Staat. Man braucht deshalb keine Äcker in diesem Land und keine Felder, sondern nur einen Acker und ein Feld. Fast wird man erdrückt von der Wucht dieser großen Getreidetafeln, auf deren verschneiten Stoppeln jetzt überall die riesigen, bauernhaushohen Getreideschober stehen.

Etwas weiter vorne liegt das erste russische Dorf. Kleine, niedere und weißgetünchte Hütten mit Strohdächern. Aber wie in Spanien große Kirchen über das kleinste Dorf hinausragen, so überragen hier drei langhingestreckte Gebäude das ganze Bild: Der gemeinsame Stall, der gemeinsame Getreidespeicher und der gemeinsame Geräteschuppen.

Dieses Panorama, dieser erste Eindruck wiederholt sich später immer wieder. Es gibt nichts anderes auf dem Lande, alles ist gleich. Die einzigen Unterschiede schuf lediglich die verschieden geartete und gestaltende Natur. Später, wenn ich einmal Gelegenheit habe, mehrere dieser Kolchosen zu besuchen und zu studieren, werde ich mehr Einzelheiten darüber berichten.

Etwa zwei Kilometer hinter der Grenze gehen auf der Straße die ersten Leute, die wir in Russland sehen. Selbstverständlich halten wir an, denn es ist für einen Journalisten interessant, zu wissen, was ihm diese ersten Menschen eines 200-Millionenvolkes sagen werden. Es sind zwei Frauen, sie sehen aus wie alle anderen in dieser Gegend. Einfach zwei ganz gewöhnliche Bauernfrauen.

„Ich suche meinen Mann", sagte die eine, und „ihr seid feine Leute, ihr duftet geradezu, unsereiner aber, der stinkt", meinte die andere.

Und alles das auf die einfache Frage des Dolmetschers, wo sie hingingen.

Das war mein erstes Interview im bolschewistischen Russland.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Ein Schweizer Journalist sieht Russland